Evangelium des vollkommenen Lebens
Auszug aus einem aramäischenUrtext
aus der Bibliothek des Vatikans
»Im Namen des Allerheiligsten, Amen. Hier beginnt das Evangelium
des vollkommenen Lebens von Jesu-Maria, dem Christus,
dem Nachkommen Davids durch Joseph und Maria dem Fleische
nach, und Sohne Gottes durch göttliche Liebe und Weisheit dem Geiste nach.
Vorwort
Durch alle Zeiten ist der ewige Gedanke, und der Gedanke ist das Wort, und das Wort ist die Tat, und diese drei sind eins im ewigen Gesetz, und das Gesetz ist bei Gott, und das Gesetz ist Gott. Alle Dinge sind geschaffen durch das Gesetz, und ohne es ist nichts geschaffen, was vorhanden ist. Im Worte sind Leben und Stoff, das Feuer und das Licht. Liebe und Weisheit sind eins zur Erlösung aller. Und das Licht scheinet in der Finsternis, und die Finsternis verbirgt es nicht. Das Wort ist das eine lebenspendende Feuer, und durch sein Leuchten wird es zum Feuer und Licht in jeder Seele, die in die Welt tritt. Ich bin in der Welt, und die Welt ist in mir, und die Welt weiss es nicht. Ich komme zu meinem eigenen Hause, und meine Freunde nehmen mich nicht auf. Doch alle, die aufnehmen und gehorchen, denen ist Macht gegeben, Kinder Gottes zu werden und ebenso denen, die an den heiligen Namen glauben, die nicht aus dem Willen des Fleisches und Blutes, sondern aus Gott geboren sind. Und das Wort ist Fleisch geworden und wohnet unter uns, und wir sahen dessen Heiligkeit voller Gnade. Sehet die Güte und die Wahrheit und die Schönheit Gottes!«
Vorbemerkung
Der englische Priester Rev. G. J. Ouseley wurde 1835 geboren und starb 1906. Im Jahre 1881 übersetzte er diesen Text und berichtete im Vorwort der ersten Ausgabe (1902): »Das vorliegende Ur-Evangelium wird aufbewahrt in einem der buddhistischen Klöster in Tibet, wo es seinerzeit von jemandem aus der Gemeinschaft der Essener versteckt worden ist, um es vor den Händen der Fälscher in Sicherheit zu bringen. Es ist jetzt zum erstenmal aus dem Aramäischen übersetzt.«
Die geschichtliche Richtigkeit dieser Behauptung ist schwer nachzuprüfen. E. Francis Udny schreibt im Vorwort zu einer zweiten Ausgabe (1923) zur Frage geschichtlicher Beweise: »Ungläubige und verdorbene Zeiten verlangen nach Zeichen handgreiflicher Beweise. Es werden keine solchen Zeichen gegeben; denn wenn selbst die wirklichen Schreiber der aramäischen Urschrift von den Toten auferständen und ihre Urheberschaft bezeugten, so würden ungläubige Kritiker immer noch weitere Zeichen fordern und in ihrer Verstocktheit verharren. Die Wahrheit ist das Zeichen, und das reine Herz wird es erkennen.«
Das ist eine grundlegend wichtige Einsicht. Auf geistigen Gebieten kann vom einzelnen Menschen nur das als Wahrheit betrachtet werden, was in seinem besten Innersten als solche empfunden, erlebt wird. Wirklicher Beweis liegt innen, nicht aussen. Wer seine Überzeugungen aufzubauen versucht auf Behauptungen, die von aussen, durch Wort und Schrift zu ihm kommen, der kann die ihm zugehörige Wahrheit nicht finden. Alles von aussen Kommende darf nur Anregung sein zu einem eigenen Erspüren und Durchdenken und Erleben, aus dem die eigene Erkenntnis aufleuchtet.
Für den Menschen, der Wachheit und Reife will, kann es nur innere Autorität geben, niemals äussere. Es ist somit nicht wesentlich, ob dies Evangelium wirklich im Urtext noch in Tibet liegt und ob es genau die Worte wiedergibt, die Jesus zugeschrieben werden. Eine Wahrheit ist nicht deswegen richtig, weil sie nachweisbar von Christus oder Buddha oder Laotse oder einem anerkannten Wissenschaftler ausgesprochen wurde. Wer am Buchstaben klebt, wird nie das Wesen erfassen.
Wie ist »das Wort Gottes« der Bibel denn zustande gekommen? Die überlieferten Aufzeichnungen der Reden Jesu und der zugehörigen geschichtlichen Geschehnisse wurden erst Jahrzehnte nach seinem Tode vorgenommen. Lücken im Gedächtnis, Missverständnisse in der Auffassung, später auch noch Fehler in der Übersetzung: all diese menschliche Mangelhaftigkeit kann mitgewirkt haben an dem Ergebnis, wie es heute z. B. in der Luther-Bibel vorliegt. Wie verhängnisvoll wirkt sich dann jeder Buchstabenglaube aus! Er drängt sich als Fremdkörper in die Seele des Menschen, trägt Zwiespalt hinein, verschüttet den Quell eigenen Empfindens, eigener Kraft und damit der Gotteskraft, die in jedem Wesen leben und wirken möchte. Die Rückverbindung (religio) wird zerschnitten, das ICH und der Vater sind nicht mehr eins, der Mensch hat seine geistige Heimat, seine Gottverbundenheit verloren, ist aus Midgard, aus Tao verstossen.
Wir kennen den verhängnisvollen Streit, den Luther und Zwingli und ihre Glaubensbewegungen trennte. Luther hatte in der Geschichte des Abendmahls übersetzt: »Und er nahm das Brot, dankte und brach's und gab's ihnen und sprach: Das ist mein Leib, der für euch gegeben wird; das tut zu meinem Gedächtnis.« Lukas 22/19.
Zwingli legte die Stelle aus: das bedeutet meinen Leib. Doch Luther, mit dem Zeigefinger auf dem Wörtlein, beharrte auf dem »ist«, und die beiden grossen Männer fanden nicht mehr zueinander.
Mit den heute allgemein anerkannten vier Evangelien ist aber noch ein weiteres geschehen. Mit dem Konzil zu Nicea 325 n. Chr. wurde die christliche Lehre zur Staatsreligion gemacht. Dieses Konzil führender christlicher Persönlichkeiten wählte aus den vielen überlieferten Evangelien und Bruchstücken die vier aus, die Matthäus, Markus, Lukas und Johannes zugeschrieben wurden und bezeichnete sie als die echten, die kanonischen, während die ändern als zweifelhaft, als apokryph abgelehnt wurden. Nicht nur wurde diese Auswahl von Menschen besorgt, von kirchlichen Menschen, sondern Prof. Nestle sagt in seiner »Einführung in die Textkritik des griechischen Testaments«, dass damals gewisse Gelehrte durch die kirchlichen Behörden als Korrektoren ernannt und tatsächlich bevollmächtigt waren, den Text der Schrift zu korrigieren im Sinne dessen, was als strenggläubig richtig betrachtet wurde. Diese Korrekturen nun konnten leicht in manchen Fällen zu verhängnisvoller Fälschung werden.
Das vorliegende aramäische Evangelium (die griechischen Texte waren teils Übersetzungen aus dem Aramäischen) lässt nun deutlich erkennen, welche Lebensgebiete im besonderen solcher Korrektur und Verstümmelung ausgesetzt gewesen sein mochten.
Zwei seien erwähnt: 1. die »Korrektoren« strichen mit peinlicher Sorgfalt alle Stellen heraus, die sie nicht befolgen und nicht befolgt haben wollten, nämlich jene gegen das Fleischessen und Alkoholtrinken, und ebenso alles, was als Beweis gegen das Fleischessen hätte dienen können, so die Berichte über Jesu Tierliebe und seine Auflehnung gegen die Misshandlung der Tiere. Wer Italien und andere Mittelmeerländer und die Stellung des dortigen Durchschnittsmenschen zum Tier kennt, wie herzlos sie Singvögel morden und verspeisen und das Tier mehr nur als seelenloses Ausbeutungsobjekt betrachten und missbrauchen, kann verstehen, dass wohlgepflegte Kirchenfürsten die Lebensweise als »unwesentlich«, als »materiell« abtun wollten, um nicht auf liebgewordene Genüsse und Gewohnheiten verzichten zu müssen. Erfordert es doch viel weniger Anstrengung, von Liebe zu reden, als Liebe auch im Alltag allen Geschöpfen wirklich zu geben.
2. Ebenso wurde die Lehre von der Wesenseinheit alles Lebendigen unterdrückt, die doch im ganzen Osten anerkannt wird, auch die Lehre von der Wiedergeburt, die besagt, dass beim Tode die Seele erhalten bleibe, gleich wie eine Möwe beim wiederholten Eintauchen in den Ozean (der Materie), so die Seele bei Geburten in erdhaften Leibern. Über Beweggründe zur Unterdrückung dieser Auffassungen folgen noch einige Ausführungen bei den entsprechenden Textstellen.
Damit wollen wir den neuen Evangelisten zu uns sprechen lassen.
Seine Worte seien uns nicht unfehlbare Autorität. Vielmehr wollen wir uns innerlich aufschliessen und dort uns freuen, wo wir empfinden: Das ist schön! Das ist richtig! Das passt zum Bild des Erlösten l Das ist Weisheit und Güte! Lass es nun auch in mir lebendig werden!
Beginnen wir mit einigen Ergänzungen zu dem Bericht über Jesu Entwicklungsgang. Schweigt sich doch die Bibel über alles, was zwischen Jesu zwölftem und dreissigstem Lebensjahr geschehen ist, völlig aus.
Kindheit und Jugend Jesu
Kapitel 2, Vers 6 und 7 (= 2/6, 7) spricht der Engel zu Maria:
»6) Der Heilige Geist wird über Joseph kommen, deinen Vertrauten,
und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten, o Maria;
darum wird auch das Heilige, das von dir geboren wird, Gottes
Sohn genannt, und sein Name auf Erden soll sein Jesus Maria;
denn er soll die Menschen von ihren Sünden erlösen, wenn immer
sie Reue zeigen und dem Gesetze Gehorsam leisten.
7) Deshalb sollst du auch kein Fleisch essen noch starke Getränke
trinken; denn das Kind wird Gott geweiht sein vom Schösse seiner
Mutter an, und weder Fleisch noch starke Getränke soll es zu sich
nehmen, noch soll jemals eine Schere sein Haupt berühren.«
»6/1) und seine Eltern gingen alle Jahre gen Jerusalem auf das
Osterfest (Passah), und sie feierten das Fest nach der Art ihrer
Vorfahren, die alles Blutvergiessen von Tieren vermieden und sich
des Fleisches und starker Getränke enthielten. Und da er zwölf
Jahre alt war, gingen sie hinauf nach Jerusalem nach Gewohnheit
des Festes.«
Das Erlebnis im Tempel ist ähnlich geschildert wie in der Bibel.
»6) Und er ging mit ihnen hinab und kam nach Nazareth und war
ihnen gehorsam. Und er machte Räder und Joche und auch Tische
mit grosser Geschicklichkeit. Und Jesus nahm zu an Grösse und
auch an Gnade bei Gott und den Menschen.«
Ein gesunder, schaffensfroher Junge, kein Grübler und Stubenhocker!
»7) Und eines Tages kam der Knabe Jesus an einen Ort, wo Fallen
gestellt waren, um Vögel zu fangen, und es standen mehrere
Knaben dabei. Und Jesus sprach zu ihnen: »Wer hat diese
Schlingen hierher gelegt für die unschuldigen Geschöpfe Gottes?
Siehe, in einer Schlinge sollten auch sie gefangen werden wie diese
da!« Und er erblickte zwölf Sperlinge, die waren wie tot.
8) Und er bewegte seine Hände über ihnen und sprach zu ihnen:
»Flieget hinweg, und solange ihr lebet, gedenket mein!« Und sie
erhoben sich und flogen hinweg mit lautem Geschrei. Und die
Juden, da sie dieses sahen, waren sehr erstaunt und erzählten es
den Priestern.«
Dieser Bericht befindet sich auch in einem der apokryphischen
(zweifelhaften) Evangelien, doch in unwahrscheinlicher Leseart.
Dort soll das Jesuskind Sperlinge aus Lehm geknetet und zum
Fliegen gebracht haben. Warum solche Schaustellung ungewöhnlicher
Kräfte? Um eigene Eitelkeit oder um die Neugier der
Zuschauer zu befriedigen? — Die Erzählung hier dagegen erweckt
den Eindruck der Wahrheit und Schönheit. Jesus befreit Vögel, die
in Schlingen gefangen waren, und als sie zuerst vor Schreck oder
Betäubung nicht fortfliegen konnten, flösste er ihnen Kraft und
Mut ein und sie flogen davon. Wahrheit und Fälschung sind hier
leicht zu unterscheiden.
»9) Und andere Wunder tat das Kind, und man sah, wie Blumen
unter seinen Füssen emporsprossen, dort, wo bisher unfruchtbarer
Boden gewesen war. Und seine Gefährten standen in Verwunderung
vor ihm.»
Jeder Mensch strahlt eine Kraft aus, die seinem Wesen gemäss
wirkt. Es gibt Menschen, die haben eine »glückliche Hand« zu
säen. Die Blumen und Pflanzen gedeihen unter ihren Händen
besser als bei ändern Menschen. So beruhigt auch die Gegenwart
oder die Berührung des einen Menschen einen Kranken und kann
die Genesung sehr fördern. Wir haben uns nur vorzustellen, dass
bei einem innerlich und äusserlich reinen und gesunden, furchtlosen
und gütigen Menschen alle diese Kräfte, die überall gefunden
und entfaltet werden können, in sehr gesteigertem Masse in
Wirksamkeit sind und daher, im Vergleich zu den Kräften der
Alltagsmenschen, wie Wunder wirken.
»10) Als Jesus achtzehn Jahre alt war, ward er mit Mirjam
verheiratet, einer Jungfrau aus dem Stamme Juda, und er lebte mit
ihr sieben Jahre lang, bis sie starb; denn Gott nahm sie zu sich,
damit er, Jesus, zu den höheren Dingen frei werde, die er zu
vollbringen hätte, und um zu leiden für alle Söhne und Töchter
der Menschen.«
Von der Kindheit wächst der Mensch durch Stufen hinauf zur
Reife. Er kann im wesentlichen keine Entwicklungen überspringen.
So gehört auch die Geschlechtsliebe, wie sie Geist, Seele und
Leib ganz zu umfassen und in hoher Glut zu einen vermag,
notwendig zum Wachstum, wenn Vollendung das Ziel ist.
Freilich, auch die hohe Zeit der Liebe, der Ehe ist in gewissem
Sinne Stufe, und auch hier folgt auf die Blüte die Frucht, Doch
können wir nur durch Bejahung und Erfüllung zu freiem Weiterschreiten
kommen, nicht aber durch Verneinung, Verachtung und
Unterdrückung. Daher ist eine Ehelosigkeit, die schon von Kind
an einem Menschen für sein ganzes Leben aufgezwungen wird,
etwas Sinnwidriges. Sie bringt in der Regel hässliche Lüsternheit,
Verlogenheit und verkrümmt Körper, Seele und Geist. Vollendung
bleibt ihr verschlossen.
Wer Kindheit, Jugend und Reife in Glut und Schönheit erfüllt,
kann jedoch in weitere Stufen wachsen, kann »frei werden zu den
höheren Dingen«, kann seine Kraft immer mehr den umfassenden
sozialen Aufgaben widmen. Er wird zärtliche Liebe nicht verneinen,
wird sie jedoch nicht mehr so sehr als höchstes Glück über
alles andere stellen. Je inniger er eine Stufe gelebt, desto freier wird
er über sie hinaufsteigen.
Es kann auch sein, dass einzelne Stufen, wie die sexuelle, schon in
früheren Leben ihre Erfüllung gefunden haben. Doch immer gilt
dies:
Heiligkeit, Vollendung ergibt sich aus dem Ja, nicht aus dem Nein.
Es kommt nicht darauf an, etwas nicht zu tun (und dabei heimlich
daran gekettet zu bleiben), sondern alles in Wahrheit und
Schönheit zu tun und sich dadurch freizumachen für neues
Erleben und neues Tun. Nicht ob ich etwas tue, sondern wie ich es
tue, das entscheidet.
Die Kirche hat geschlechtliches Geschehen an sich in den Schmutz
gezogen. Ihre Vertreter betrachten mehr das äusserliche und
weniger das innerliche Geschehen, und Reinheit bedeutet für sie
mehr ein (meist verkrampftes) Nicht-Tun als ein Richtig-Tun.
Daher musste alles, was auf Jesu Liebesleben hätte weisen können,
unterdrückt, »korrigiert« werden.
»11) Und Jesus, da er das Studium des Gesetzes vollendet hatte,
ging wieder nach Ägypten, auf dass er die Weisheit der Ägypter
erlerne, ebenso wie es Moses getan hatte. Und er ging in die
Wüste, allwo er betete und fastete, und er erhielt die Kraft des
göttlichen Namens, durch welche er viele Wunder wirkte.
Er lebte aus seinem Innersten, aus Gottverbundenheit, nicht aus
Gier oder Eitelkeit. Diese Erfüllung der grossen inneren Gesetze
brachte, im Gegensatz zu den Anstrengungen gottentfremdeter
Leute, Erfolge, die den ändern wunderbar erschienen.
»12) Und durch sieben Jahre hindurch redete er mit Gott von
Angesicht zu Angesicht, und er erlernte die Sprache der Tiere und
der Vögel und die Heilkräfte der Bäume, Kräuter und Blumen und
die verborgenen Kräfte der Edelsteine und lernte auch die
Bewegungen der Sonne und des Mondes und der Sterne und die
Macht der Schriftzeichen, die Mysterien des Kreises und des
Winkelmasses und die Verwandlung der Dinge und Formen, der
Zahlen und Zeichen. Von dort kehrte er zurück nach Nazareth,
allwo er seine Eltern besuchte, und er lehrte dortselbst und in
Jerusalem als ein anerkannter Rabbi, sogar im Tempel, und es
hinderte ihn niemand daran.
13) Und nach einiger Zeit ging er nach Assyrien und Indien und
nach Persien und in das Land der Chaldäer. Und er besuchte ihre
Tempel und sprach mit den Priestern und den Weisen viele Jahre
hindurch, und er tat viele wunderbare Werke und heilte die
Kranken, während er durch die Länder zog.
14) Und die Tiere des Feldes empfanden Ehrfurcht vor ihm, und
die Vögel hatten keine Furcht vor ihm: denn er erschreckte sie
nicht, ja, sogar die wilden Tiere der Wüste fühlten die Macht
Gottes in ihm und dienten im freiwillig.
15) Denn der Geist der gottähnlichen Menschlichkeit erfüllte ihn
und erfüllte so alle Dinge rings um ihn und brachte sie in Einklang
mit ihm . . .
18) Und an einem Tage ging er einen Bergpfad nahe der Wüste
entlang, und da begegnete ihm ein Löwe, den eine Menge
Menschen mit Steinen und Wurfspiessen verfolgten, um ihn zu
töten.
19) Aber Jesus verwehrte ihnen mit den Worten: »Warum verfolgt
ihr die Geschöpfe Gottes, die edler sind als ihr? Durch die
Grausamkeit der Menschen vieler Geschlechter wurden die Tiere
zu Feinden des Menschen gemacht, des Menschen, der doch ihr
Freund sein sollte.
20) So wie die Macht Gottes sich in ihnen zeigt, so auch seine lange
Duldung und sein Mitleiden. Höret auf, dieses Geschöpf zu
verfolgen, das euch kein Leid zufügen will. Seht ihr denn nicht,
wie es vor euch flieht und von eurer Wut erschreckt ist?«
21) Und der Löwe kam herbei und legte sich Jesum zu Füssen und
bezeugte ihm seine Zuneigung. Und das Volk war voller Staunen
und sprach: »Sehet, dieser Mensch liebet alle Geschöpfe, und er
hat die Macht sogar über die Tiere der Wüste, und sie gehorchen
ihm.«
Auch solche Ergebnisse sind »natürlich«. Drei Berichte mögen das
veranschaulichen.
Christian Wagner (tau-138)
Dieser Tierfreund und Bauerndichter, geboren 1835, lebte in
Warmbronn im Schwarzwald. Magnus Schwantje berichtet über
eigene Erlebnisse mit Wagner im Reform-Nachrichten-Blatt
Zürich im September 1935:
»In vielen Legenden wird erzählt, dass die Güte heiliger Menschen
auch von den Tieren erkannt wurde, dass diese alle Furcht vor
ihnen verloren, mit ihnen in Freundschaft lebten und bei ihnen
Schutz und Hilfe suchten. Tatsächlich besitzen viele Tiere die
rätselhafte Fähigkeit, auf den ersten Blick zu erkennen, ob ein
Mensch sie liebt oder nicht. Ich selber habe, als ich mit Christian
Wagner durch das Dorf ging, gesehen, wie alle Haustiere in der
Nähe eilig und viele mit lebhaften Äusserungen der Freude auf ihn
zuliefen, so dass er bald von vielen Dutzenden von Tieren,
vielleicht von etwa hundert, umringt war, trotzdem er sie nicht
durch Rufe und Gebärden an sich lockte und ihnen keine Nahrung
gab. Einige Hühner flogen auf seine Schultern. Besonders erstaunlich
ist es, dass die Tiere auch vor fremden Menschen in seiner
Gesellschaft keine Furcht zeigten. Ich habe, während Christian
Wagner neben mir stand, viele Hühner und Enten, die ihm nicht
gehörten, auf den Arm genommen, und kein einziges dieser Tiere
machte die geringste Abwehrbewegung. Die Hennen ängstigten
sich nicht, wenn ich die Küken in die Hand nahm. Die Angehörigen
Christian Wagners sagten mir, dass, wenn ihr Vater nicht in
der Nähe sei, diese Tiere der Nachbarn ebenso furchtsam seien,
wie die meisten Angehörigen ihrer Gattung.
Einmal, als ich in der Stube des Meisters sass, hörte ich, wie ans
Fenster geklopft wurde. Ein Huhn stand auf der Fensterbank und
verlangte durch das Klopfen Einlass. Eine Tochter des Dichters
öffnete das Fenster, und das Huhn flog dem Dichter auf die
Schulter und stiess mit dem Kopf gegen dessen Wange, wie es
Katzen zu tun pflegen. Nachdem er es gestreichelt und ihm einige
freundliche Worte gesagt hatte, setzte sich das Huhn auf die Lehne
des Stuhls, auf dem Christian Wagner sass, blieb dort etwa eine
Viertelstunde lang sitzen, ging dann zum Fenster und gab durch
Töne zu erkennen, dass es wieder hinausfliegen wolle. Mir war
zumute, als ob ich in ein Märchenland versetzt wäre, und als der
sonderbare Gast uns verlassen hatte, äusserte ich meine lebhafte
Verwunderung über das Gesehene. Der Dichter, der auch so
aussah, als ob er soeben aus dem tiefsten Märchenwalde in die
wirkliche Welt getreten wäre, sagte lachend:
»Ja, das Huhn ist meine Freundin und hat mir Guten Tag sagen
wollen.«
Seine Tochter erzählte mir dann, dass sehr oft, wenn ihr Vater
nicht aus dem Hause gehe, einige Tiere der Nachbarn Einlass
begehrten, um ihm Guten Tag zu sagen. Das Huhn, das uns
soeben besucht habe, komme fast täglich zu einer bestimmten
Stunde zu ihnen. Nahrung erhielten diese Gäste nicht; sie kamen
nur aus Zuneigung zu dem gütigen Menschen in seine Wohnung. «
Das letzte Paradies
Unter diesem Namen lief in der Schweiz ein Afrika-Film, und einer
der Leiter der Forschungsreise gab dazu persönliche Erläuterungen.
Von Süden her durchquerten die Forscher Afrika erst nach
Norden und dann nach Westen zur Küste, mit Kraftwagen und
drangen dabei in Gebiete vor, wo das Wild vom Menschen noch
nicht gestört oder gejagt worden war. Sie lagerten lange Zeit am
gleichen Orte, um das Wild an die neuen Gäste zu gewöhnen und
konnten Löwen und riesige Elefantenherden aus sehr naher
Entfernung filmen. Das Erstaunlichste nun war, dass die Forscher,
als leidenschaftliche Jäger, die ganze Reise durchführten, ohne
Schusswaffen mitzunehmen. So fühlten sie sich viel geschützter,
da es sie vor unbedachten Angriffen auf Tiere bewahrte, Grosswild
in unberührter Natur werde dem Menschen nur gefährlich,
wenn er es reize, bedrohe oder gar verwunde. So urteilten alte
erfahrene Jäger,
Eigene Erfahrungen
Meine Wanderungen durch Amerika und Asien, durch Urwald
und Dschungel, durch Gebirge und gefährliche Gegenden führte
ich immer allein und ohne übliche Bewaffnung durch, und nie bin
ich von grösseren Tieren oder von Menschen angegriffen oder gar
verletzt worden. Furchtlosigkeit, Vorsicht und Güte bieten den
sichersten Schutz. Bissige Hunde tun mir nichts. Strecke ich ihnen
die Hand entgegen, so schnuppern sie daran und wedeln mit dem
Schwanz.
Anschliessend seien nun einige Stellen erwähnt, die sinnfällige
Übersetzungsfehler (oder beabsichtigte Korrekturen) richtigstellen
und das Gebiet der Ernährung behandeln.
»7/4) Johannes hatte ein Kleid aus Kamelhaaren und einen Gürtel
ebensolcher Art um die Lenden, und seine Nahrung waren die
Früchte des Erbsenbaumes und wilder Honig.«
Im englischen Original steht »locust-tree« . Unter »locust« steht im
Wörterbuch: 1. Heuschrecke, 2. unechte Akazie. — Wenn man
sich vorstellt, wie dieser gütige Johannes die trockenen Heuschreckenbeine
und -flügel auf seinen Zähnen zermalmt, dass es
kracht, und wie er mit dem Honig nachhilft, damit es besser
rutscht! Und doch bleibt er in der Luther-Bibel unverändert der
Heuschreckenvertilger. Darf doch das »Wort Gottes« nicht
verändert werden! Dabei heissen die süssen trockenen Früchte des
Baumes, die wie Erbsenschoten aussehen, Johannisbrot.
Tierliebe und Vegetarismus
»14/6) Und als Jesus mit einigen Jüngern dahinging, begegnete er
einem Mann, der Hunde abrichtete, um andere Tiere zu jagen!
Und er sprach zu dem Manne: »Warum tust du dieses?« Und der
Mann antwortete: »Weil ich davon lebe. Was für einen Nutzen
haben diese Tiere denn? Sie sind schwach, meine Hunde aber sind
stark.« Und Jesus sprach zu ihm: »Du kennst nicht Weisheit noch
Liebe, siehe, jedes Geschöpf, von Gott erschaffen, hat seinen Sinn
und Zweck. Und wer kann sagen, was Gutes in ihm ist und zu
welchem Nutzen für dich und andere Menschen?
7) Siehe die Felder, wie sie wachsen und gedeihen, und die Bäume,
wie sie Früchte tragen, und die Kräuter! Was willst du noch mehr
als das, was dir die ehrliche Arbeit deiner Hände gibt? Wehe den
Starken, die ihre Stärke missbrauchen! Wehe den Klugen, die die
Geschöpfe Gottes verwunden! Wehe den Jägern! Denn sie sollen
selbst gejagt werden.«
8) Und der Mann wunderte sich sehr und liess davon ab, die Hunde
zur Jagd abzurichten und lehrte sie, Leben zu retten und nicht, es
zu verderben. Und er nahm die Lehre Jesu an und wurde sein
Schüler.«
Da fällt uns auf einmal auf: Warum holt sich Jesus seine ersten
Jünger unter den Fischern und lehrt sie »Menschen fischen«? Holt
er sie nicht damit von einer Tätigkeit weg, die er nicht gutheissen
kann?
Wie steht es aber mit der Speisung der Fünftausend durch Brot
und Fische?
»29/6) Er aber sprach zu ihnen: »Wieviele Brote habt ihr?
Gehet hin und sehet.« Und da sie es erkundet hatten, sprachen sie:
»Sechs Brote und sieben Trauben Weinbeeren.« Und er gebot
ihnen, dass sie sich alle lagerten zu je fünfzig auf das Gras. Und sie
setzten sich nach Schichten zu je hundert und zu je fünfzig.
7) Und er nahm die sechs Brote und die sieben Trauben
Weinbeeren und sah auf gen Himmel und dankte, segnete und
brach die Brote und ebenso die Trauben und gab sie den Jüngern,
und sie teilten alles unter das Volk aus.
8) Und sie assen alle und wurden satt. Und sie hüben auf zwölf
Körbe voll der Brocken, die übrigblieben. Und die da von dem
Brote und den Früchten gegessen hatten, waren fünftausend
Männer, Frauen und Kinder, und er lehrete sie viele Dinge.«
Kann man sich eine Verteilung getrockneter Weinbeeren nicht viel
besser vorstellen als eine Zerstückelung von Fischen, und passt sie
nicht viel besser zur Grundhaltung der Lehren Jesu? Wie aber
konnten diese Fische in den Text gebracht werden? Darüber
berichtet Rudolf Müller in seinem Reform-Nachrichten-Blatt,
Zürich vom Juni 1935 in einem aufschlussreichen Aufsatz über
»Vegetarismus und Urchristentum«:
»Am meisten Verwirrung stiftete das griechische Wort »opsom«,
das Zuspeise bedeutet, in späteren Zeiten jedoch mit »Fleisch«
oder »Fisch« übersetzt wurde. (Vergleiche Bunsen in seinem
Bibelwerk.) Derselbe Irrtum kommt auch bei Sokrates vor, wo
»Zuspeise« auch als »Fleisch« übersetzt wurde, während zuverlässige
Quellen angeben, dass Sokrates rein vegetabil lebte, dass
die Fleischenthaltung geradezu ein Bestandteil seiner Lehre war.«
Die Zuspeise bestand im Landesinnern meist aus Trockenfrüchten
und nur am Meer oder an Seen bisweilen aus Fischen. Weiter wird
über geschichtliche Belege berichtet: »Von Christus heisst es im
Evangelium, er sei »Essäer« gewesen. Wie lebten nun diese Leute?
Flavius Josephus, ein Zeitgenosse Christi, der von den Römern als
Geschichtsschreiber angestellt war, schreibt darüber in seiner
»Geschichte des jüdischen Kriegs« :
»Die Essener lebten auf diese Weise wie die Pythagoräer unter den
Griechen. Herodot hielt sie hoch in Ehren und schätzte sie höher
als sterbliche Menschen. Sie bringen keine Opfer; denn ihr
reines Leben bedarf solcher Sühnung nicht. Das Speisezimmer
betreten sie wie einen Tempel und essen nichts, was Leben hatte . . .«
Die Essäer hatten den Grundsatz der Fleischenthaltung, was
durchaus nichts Ungewöhnliches ist; hatten ihn doch die Buddhisten
auch seit Jahrhunderten, und Judäa war übersät mit buddhistischen
Missionen. Auch frühere jüdische Sekten hatten dieses
Gebot, so zum Beispiel die »Nasiräer«. Simson war einer von
ihnen, und viele Sprachgelehrte
sind der Ansicht, dass auch das
Wort »der Nazarener« eine Abwandlung des Wortes Nasiräer war1).
1) In der Luther-Bibel steht
in verstümmelter Form ein Hinweis darauf. (Matth. 2/23 . . .: Er
soll Nazarenus heissen. —
Zur Erläuterung wird verwiesen auf (5. Moses, 33/16) . . .die
Gnade. . .komme . . auf den Scheitel des Nasir unter seinen
Brüdern.
Von Daniel erinnert man sich, dass er sich weigerte, Fleisch
zu essen.
Warum auch übten die Apostel wie die Urchristen, ja sogar die
Mönchsorden das Gesetz der absoluten Fleischenthaltung, wenn
das nicht eine Forderung ihres Meisters gewesen wäre? Zeugen
dafür sind die Schriften der sogenannten »Kirchenväter«, der
Führer des jungen Christentums, die 200 bis 300 Jahre nach
Christus lebten. In ihren Schriften findet man folgende bemerkenswerte
Stellen:
In den »Homilien« des Clemens von Alexandrien (150 bis 220 n.
Chr.), b. XII, 6, beschreibt Petrus seine Lebensweise wie folgt:
»Ich lebe von Brot und Oliven, denen ich nur selten ein Gemüse
zufüge.«
Clemens versichert an anderer Stelle (Paedagogus II., 1), dass der
Apostel Matthäus von Pflanzenspeise lebte und kein Fleisch
berührte. Von St. Johannes schreibt der Kirchen-Historiker
Hegesippus (Eusebius, Kirchengeschichte II, 1, 3), dass er niemals
Fleischkost genossen habe. Sankt Augustinus (ad Faust XXII, 3)
erzählt:
»Jakobus, der Bruder des Herrn, lebte von Sämereien und
Pflanzen und berührte weder Fleisch noch Wein.«
Die ersten Christen enthielten sich durchwegs jeder Fleischnahrung,
wie wir dies in einem Briefe von Plinius an den Kaiser
Trajan bestätigt finden. Ausserdem verteidigten sie sich, als sie
von den Heiden beschuldigt wurden, bei ihren Opfermahlen
Menschenblut zu vergiessen, mehrmal mit den Worten:
»Ihr, die ihr wisset, dass wir das Tierblut verabscheuen, wie könnt
ihr glauben, wir seien nach Menschenblut begierig?«
Der heilige Basilius der Grosse, Erzbischof von Cäsarea, Patriarch
der orientalischen Mönche, geboren 329:
»Der Leib, der mit Fleischspeisen beschwert wird, wird von
Krankheiten heimgesucht, während eine mässige Lebensweise ihn
gesund macht und dem Übel die Wurzel abschneidet. Die Dünste
der Fleischspeisen verdunkeln das Licht des Geistes. Mit welcher
Art von Fleischspeisen der Magen auch gefüllt werde, immer
werden unreine Bewegungen erzeugt, die Seele wird gleichsam
unter der Last der Speise erstickt, verliert die Herrschaft und die
Fähigkeit zu denken.«
St. Johannes Chrysostomus, 344 in Antiochien geboren, wurde
wegen seiner Gelehrsamkeit Augustinus der Griechen genannt
und wegen seiner Beredsamkeit Chrysostomus, der Goldmundige.
Seine Werke umfassen 242 Episteln und 700 Abhandlungen. Er beschreibt
das Leben, das er und seine Mönche führten, wie folgt:
»Keine Ströme von Blut fliessen hier, kein Fleisch wird geschlachtet
und zerhackt, leckere Kost und schwerer Kopf sind diesen
Mönchen unbekannt. Man riecht hier nicht den schrecklichen
Dunst des Fleischmahles und die unangenehmen Gerüche der
Küche und hört kein Getöse und keinen wüsten Lärm. Es wird nur
Brot genossen, das mit eigener Arbeit gewonnen wurde, und
Wasser, das eine reine Quelle darbietet. Wird ausnahmsweise ein
üppiges Mahl gewünscht, so besteht es aus Früchten und wird mit
grösserem Genuss verzehrt als königliche Mahlzeiten.
Ihr aber folgt dem Wege der Wölfe und den Gewohnheiten der
Tiger, aber jene hat die Natur auf Fleischnahrung angewiesen,
während uns Gott mit vernünftiger Rede und Gerechtigkeitssinn
ausstattete. Und trotzdem sind wir schlimmer als die wilden Tiere
geworden!«
Aus den Überlieferungen geht hervor, dass auch die Heiligen
Augustinus, Antonius und Franziskus sich rein vegetabil ernährten
und ihren Orden entsprechende Regeln gaben. Später, als die
Orden reich und mächtig wurden, nahm man diese Vorschriften
nicht mehr so genau, und bald setzte auch der Zerfall der Klöster
ein.
Ist wirklich der Lebensweise, der praktischen Verwirklichung
grundlegender Auffassungen über Liebe und Güte auch im Alltag,
so grosse Bedeutung zuzumessen? Da findet sich in unserem
Evangelium eine sehr aufschlussreiche Stelle, deren Einleitung wir
ebenfalls auf uns wirken lassen wollen:
»21/1 . . . Und da kamen sie an einen Berg, dessen Wege sehr steil
waren, und fanden einen Mann mit einem Lasttier.
2) Das Pferd war zu Boden gestürzt, denn die Last war ihm zu
schwer, und der Mann schlug es, dass das Blut von dem Körper des
Tieres rann. Und Jesus trat zu dem Manne und sprach: »Du Sohn
des Greuels, warum schlägst du dein Tier? Siehst du denn nicht,
dass es für seine Last viel zu schwach ist, und weisst du nicht, dass
es Schmerz leidet?«
3) Der Mann antwortete: »Was hast du damit zu schaffen? Ich
kann mein Pferd schlagen, so viel es mir gefällt; denn es gehört
mir, und ich kaufte es für eine schöne Summe Geldes. Frage nur
die andern, sie kennen mich und wissen es.«
4) Und einer von den Jüngern sagte: »Ja, Herr, es ist so, wie er sagt.
Wir waren dabei, als er das Pferd kaufte.« Da erwiderte Jesus:
»Seht ihr denn nicht, wie es blutet, und höret ihr nicht, wie es
stöhnt und jammert?« Sie aber antworteten: »Nein, Herr, wir
hören nicht, dass es stöhnt und jammert!«
5) Da wurde Jesus traurig und sprach: »Wehe euch, ihr Hartherzigen,
die ihr nicht höret, wie es um Mitleid klagt und schreit zu
seinem himmlischen Schöpfer, und dreimal wehe dem, gegen den
es schreit und stöhnt in seiner Qual!«
6) Und er schritt weiter und berührte das Pferd, und das Tier
erhob sich, und seine Wunden waren geheilt. Aber zu dem Manne
sprach er: »Gehe nun deinen Weg und schlage es künftighin nicht
mehr, so auch du Mitleid zu finden hoffest.«
7) Und da er das Volk herankommen sah, sprach Jesus zu seinen
Jüngern: »Der Kranken wegen bin ich krank, der Hungrigen
wegen leide ich Hunger, der Durstigen wegen leide ich Durst.«
8) Und er sagte auch: »Ich bin gekommen, die Opfer und die
Blutfeste abzuschaffen, und wenn ihr nicht aufhören werdet,
Fleisch und Blut der Tiere zu opfern und zu verzehren, so wird der
Zorn Gottes nicht aufhören, über euch zu kommen, ebenso wie er
über eure Vorfahren in der Wüste gekommen ist, die dem
Fleischgenusse frönten und erfüllet wurden von Fäulnis und von
Seuchen geplagt.
9) Und ich sage euch, wenn ihr auch versammelt seid in meinem
Schösse und haltet meine Gebote nicht, so will ich euch verstossen.
Denn wenn ihr nicht die kleinen Mysterien halten wollt, wie soll
ich euch dann die grösseren geben?«
Wer religiös empfindet, soll tief über dieses Wort nachdenken und
versuchen, seinen Sinn in sich lebendig werden zu lassen. »Die
kleinen Mysterien halten« bedeutet: die Lebensgesetze des Alltags,
der inneren und äusseren Sauberkeit, der natürlichen,
menschenwürdigen Ernährung halten. Daraus erblühen Gesundheit
und Frohsinn, Kraft und Mut und Bedürfnislosigkeit.
Sind Leib, Seele und Geist rein und frisch, so werden sie auch
empfänglich für höheres Erleben und Wissen. Einsichten wachen
auf, die einem Menschen mit verschmutzten Sinnen und verschlacktem
Leib ewig verschlossen bleiben werden.
Was heisst das: »Haltet ihr meine Gebote nicht, so will ich euch
verstossen?« Die Gebote (besser: Darlegungen) des erkennenden
Menschen veranschaulichen einfach Lebensgesetze, die in der
Schöpfung und in uns allen sich auswirken. Wer diese Gesetze
nicht erfüllt, sei es aus Unkenntnis oder aus Ablehnung, der kann
damit doch dem Gesetz von Ursache und Wirkung nicht entgehen.
Er erntet an sich was er sät oder was er zu säen unterlässt. Das
»Verstossen« liegt nicht in der Willkür Jesu, sondern in der Sache
an sich, und wir haben die Ausdrucksform, die auf einfache
Menschen Rücksicht nimmt, sinngemäss zu übertragen.
Sündenvergebung
»15/4) Und siehe, etliche Männer brachten einen Menschen auf
einem Bette, der war gichtbrüchig, und sie suchten, wie sie ihn
hineinbrächten und vor ihn legten. Und da sie wegen der grossen
Volksmenge keinen Ort fanden, wo sie ihn hinbrächten, stiegen
sie auf das Haus und liessen ihn durch das Dach hernieder und mit
dem Bette mitten unter sie vor Jesum. Und da er ihren Glauben
sah, sprach er zu ihnen: »Mensch, deine Sünden sind dir
vergeben.«
5) Und die Schriftgelehrten und Pharisäer fingen an, nachzudenken
und sprachen: »Wer ist er, der solche Gotteslästerungen
redet? Wer kann Sünden vergeben denn Gott allein?« Da aber
Jesus ihre Gedanken bemerkte, antwortete er und sprach zu
ihnen: »Was denket ihr in euren Herzen? Kann selbst Gott jemals
Sünden vergeben, wenn ihr sie nicht bereuet? Wer sprach: Ich
vergebe dir deine Sünden? Sagte ich nicht vielmehr: deine Sünden
sind dir vergeben?
6) Welches ist leichter zu sagen: deine Sünden sind dir vergeben —
oder zu sagen: stehe auf und wandle? Auf dass ihr aber wisset, dass
des Menschen Sohn Macht hat, auf Erden zu urteilen und Sünden
zu vergeben«, — sprach er zu dem Gichtbrüchigen:
»Ich sage dir, stehe auf, nimm dein Bett und geh' heim.«
7) Und alsbald stand er auf vor ihren Augen und hub das Bett auf,
darauf er gelegen hatte, und ging heim und pries Gott.«
Sünde = Übertretung der Lebensgesetze = Krankheit. Erfüllung
der inneren Gesetze = Einordnung in den inneren Frieden =
Sündlosigkeit = Gesundheit. Daher gibt es nur eine Sühne für
begangene Sünden: »Sündige fortan nicht mehr!« Wer in Tat und
Wahrheit die Erfüllung seiner Gesetze beginnt, der wird gesund,
sei es allmählich oder plötzlich. Unser Leib aber soll der wahre
Tempel Gottes sein!
49/3) Der wahre Tempel ist der Leib des Menschen, in welchem
Gott wohnet durch den Geist, und wenn dieser Tempel zerstört
wird, wird Gott in drei Tagen einen noch schöneren Tempel
errichten, welchen das Auge des natürlichen Menschen nicht
erschauen kann.
4) Wisset ihr denn nicht, dass ihr die Tempel des heiligen Geistes
seid, und dass, wer einen dieser Tempel zerstört, selbst zerstört wird?
7) Und es stehet weiter geschrieben: vom Aufgang der Sonne bis
zu ihrem Untergang soll mein Name gross sein unter den Völkern,
und Weihrauch mit einer reinen Opfergabe soll mir dargebracht
werden. Doch ihr habt eine Mördergrube daraus gemacht mit
euren Blutopfern und den süssen Weihrauch nur verwendet, um
den Geruch des Blutes zu verdecken. Ich bin gekommen, um das
Gesetz zu erfüllen, nicht, um es aufzulösen.
8) Wisset ihr nicht, was geschrieben steht? Gehorsam ist besser als
Opfer, und zu hören besser als das Fett der Widder. Ich, der Herr,
bin eurer Brandopfer müde und eurer nutzlosen Opfergaben;
denn eure Hände sind voll Blutes.
9) Und stehet nicht geschrieben: Was ist das wahre Opfer?
Waschet euch und reinigt euch und entfernet das Böse vor meinen
Augen! Höret auf, das Üble zu tun und lernet das Gute tun! Übet
Gerechtigkeit an den Vaterlosen und den Witwen und allen, die
unterdrückt werden. Und auf diese Weise werdet ihr das Gesetz
erfüllen.«
Aus der »Heilung des Gichtbrüchigen« ist ersichtlich, wie der
weitaus überwiegende Teil des »Evangeliums des vollkommenen
Lebens« ziemlich genau übereinstimmt mit den Überlieferungen,
wie die Bibel sie enthält. Oft finden sich nur kurze Ergänzungen,
die jedoch sehr wesentlich den tieferen Sinn aufleuchten lassen.
Wir greifen hier vorwiegend nur heraus, was uns in der Bibel
sinnstörend zu fehlen scheint oder was unrichtig wiedergegeben
oder übersetzt sein dürfte.
Das Ostermahl
Von Christen, die sich ihren Braten nicht gern entgehen lassen
möchten, wird mit Vorliebe darauf verwiesen, Jesus könne
unmöglich ein Vegetarier gewesen sein, da er doch das »Osterlamm
« gegessen habe. Nun, davon steht nichts in den Evangelien
der Bibel. Matthäus, Markus und Lukas (bei Johannes steht nichts
über das Abendmahl) erwähnen einheitlich das »Osterlamm« in
einer Form, die unmissverständlich als «Opfermahl« zu verstehen
ist. So spricht man auch bei uns bisweilen vom «Sonntagsbraten«
und meint damit das »Sonntagsmahl«. Wenn die drei Evangelisten
dann berichten, was Jesus mit seinen Jüngern gegessen habe,
steht kein Wort mehr von einem Lamm, das geschlachtet und
verspeist worden wäre, sondern nur noch von Brot und Wein.
Zur Weinfrage ist zu sagen, dass unser Evangelium streng
unterscheidet zwischen Wein (als süssem, eingedickten und
verdünnten Traubensaft) und »starkem«, also alkohohlhaltigem
vergorenen Getränk. Sagen doch auch wir noch öfter zu den
Trauben einfach »Wein«. Aus dem Wesen Jesu ist selbstverständlich,
dass er vergorene Getränke so wenig getrunken, als er Tiere
geschlachtet und Fleisch gegessen hat. Hören wir nun die
Darstellung unseres aramäischen Evangelisten:
»75/1) Und am Abend kam er in das Haus, wo die Zwölf und ihre
Genossen versammelt waren: Petrus und Jakobus, Thomas und
Johannes, Simon und Matthäus, Andreas und Nathanael, Jakob
und Thaddäus und Judas und Philipp und ihre Gefährten. (Und da
war auch Judas Ischarioth, der von den Leuten zu den Zwölfen
gezählt wurde, bis zu der Zeit, da offenbar wurde, wer er sei.)
2) Und sie waren alle in Kleider von reinem weissen Linnen
gekleidet; den Linnen ist die Gerechtigkeit der Heiligen. Und jeder
trug die Farbe seines Stammes. Der Meister aber war gekleidet in
sein reines weisses Kleid ohne Saum oder Flicken.
3) Und es entstand ein Streit unter ihnen darüber, wer von ihnen
als der Grösste angesehen werden sollte. Darum sprach er zu
ihnen: »Der ist der grösste von euch, der am besten dienet.«
4) Und Jesus sprach: »Mich verlangte, dieses Osterfest mit euch zu
feiern, bevor ich leide und um das Andenken meines Opfers für
den Dienst und die Erlösung aller euch zu geben. Denn siehe, die
Stunde kommt, da des Menschen Sohn in die Hände der Sünder
geliefert werden wird. «
5) Und einer der Zwölf sprach zu ihm: »Herr, bin ich es?« Und er
antwortete: »Dem ich den Bissen geben werde, der ist es.«
6) Und Judas Ischarioth sprach zu ihm: »Siehe, das ungesäuerte
Brot, den gemischten Wein, das Oel und die Krauter, doch wo ist
das Lamm, das Moses befohlen hat?« (Denn Judas hatte das
Lamm gekauft; doch Jesus hatte verboten, dass es geschlachtet
werde.)
7) Und Johannes sprach im Geiste: »Sehet das Lamm Gottes, den
guten Hirten, der sein Leben für seine Schafe hingibt!« Und Judas
ward betroffen bei diesen Worten; denn er wusste dass er ihn
verraten werde. Aber Judas sprach abermals: »Stehet nicht
geschrieben im Gesetz, dass ein Lamm geschlachtet werden müsse
für das Osterfest innerhalb der Tore?«
8) Und Jesus antwortete: »Wenn ich auf das Kreuz gehoben
werde, dann wird das Lamm wahrlich geschlachtet sein. Wehe
aber dem Menschen, durch den es in die Hände der Schlächter
geliefert wird! Es wäre ihm besser, dass er nie geboren wäre.
9) Wahrlich, ich sage euch, darum bin ich in die Welt gekommen,
dass ich alle Blutopfer und das Essen von Fleisch der Tiere und
Vögel abschaffe.
10) Am Anfang gab Gott allen die Früchte der Bäume und die
Saaten und die Kräuter zur Nahrung; doch die sich mehr liebten
denn Gott oder ihre Genossen, verdarben ihre Sitten und schufen
Krankheiten ihren Körpern und füllten die Erde mit Lüsten und
Gewalttätigkeit.
11) Nicht durch das Vergiessen von unschuldigem Blut, sondern
durch ein frommes Leben werdet ihr den Frieden Gottes finden.
Ihr nennet mich Christus, und ihr sprechet wahr; denn ich bin der
Weg, die Wahrheit und das Leben.
12) Gehet den Weg, und ihr werdet Gott finden. Suchet die
Wahrheit und die Wahrheit wird euch frei machen. Lebet im
Leben und ihr werdet den Tod nicht sehen. Alle Dinge leben in
Gott und der Geist Gottes erfüllet alle Dinge.
13) Haltet die Gebote. Liebe Gott mit ganzem Herzen und deinen
Nächsten als dich selbst. Darauf beruht das ganze Gesetz und die
Propheten. Und die Summe des Gesetzes ist dieses: Tuet niemandem,
was ihr nicht wollt, dass man euch tue. Tuet das, was ihr
wollt, dass euch die andern tun sollen.
14) Gesegnet seien, die dieses Gebot erfüllen; denn Gott ist in allen
Geschöpfen offenbar. Alle Geschöpfe leben in Gott, und Gott ist
ihnen verborgen.«
15) Und Jesus tauchte den Bissen ein, gab ihn Judas Ischarioth und
sprach: »Was du tun willst, das tue bald!« Dieser aber, nachdem
er den Bissen empfangen hatte, trat sogleich hinaus in die Nacht.«
Gott als Speise und Trank aller
»32/1) Und es geschah, da er beim Abendmahle sass mit seinen
Jüngern, dass einer von ihnen also zu ihm sprach: »Meister,
warum sagtest du, dass du uns dein Fleisch wollest zu essen geben
und dein Blut zu trinken? Denn es ist eine harte Rede für
viele.«
2) Und Jesus antwortete: »Die Worte, die ich zu euch gesprochen
habe, sind Geist und Leben. Den Unwissenden und Fleischgierigen
klingen sie nach Blutvergiessen und Tod; aber gesegnet sind, die
verstehen.
3) Sehet das Getreide, wie es wächst und reift und geschnitten und
gemahlen und im Feuer gebacken wird zu Brot. Aus diesem Brot
ist mein Leib gemacht, welchen ihr sehet. Und sehet die Weintrauben,
welche an den Stöcken wachsen zur Reife, gepflückt
werden und in die Weinpresse kommen und die Frucht der Rebe
schenken! Aus dieser Frucht des Weinstocks und aus Wasser ist
mein Blut gemacht.
4) Denn von den Früchten der Bäume und der Saat der Pflanzen
allein geniesse ich, und diese werden verwandelt vom Geiste in
mein Fleisch und in mein Blut. Von diesem und ähnlichem allein
sollt ihr essen, die ihr an mich glaubet und meine Jünger seid; denn
von diesen, im Geiste, kommen den Menschen Leben und
Gesundheit und Heilung.
5) Wahrlich soll meine Gegenwart mit euch sein im Wesen und im
Leben Gottes, in diesem Leib geoffenbart und in diesem Blut, und
von diesen sollt ihr alle, die ihr an mich glaubet, trinken.
6) Denn überall werde ich auferstehen zum Leben der Welt, wie es
geschrieben stehet in den Propheten. Vom Aufgang der Sonne bis
zu ihrem Untergang soll überall in meinem Namen eine reine
Opfergabe mit Weihrauch geopfert werden.
7) Wie im Körperlichen, so auch im Geistigen. Meine Lehre und
mein Leben sollen Speise und Trank sein für euch, das Brot des
Lebens und der Wein der Erlösung.
8) Ebenso wie das Getreide und die Weintrauben gewandelt
werden in Fleisch und Blut, also müssen auch eure irdischen
Gedanken in geistige verwandelt werden. Suchet die Verwandlung
des Körperlichen in das Geistige!«
»Sehet das Lamm Gottes, den guten Hirten!« — wie ist es mit dem
Opferlamm bei Jesus?
Sinnvoll und hilfreich ist ein Opfer nur dann, wenn jemand aus
freiem Entschluss sich selber einer erkannten Wahrheit zum Opfer
bringt, wenn er sich so sehr für deren Verwirklichung einsetzt,
dass ihm die Wahrheit mehr bedeutet als sein eigen Leben. Was
haben die Menschen, die Heimat und Gott verloren haben, die
über den Äusserlichkeiten die Innerlichkeit vergessen haben,
daraus gemacht? Sie haben das Wesen verraten und klammern
sich um so fester an den Schein, an den Namen und Buchstaben.
Statt sich und eigene Schwächen und Eitelkeiten im Dienste
schöpferischen Lebens zu opfern - schlachten, verzehren, »opfern
« sie ein unschuldiges Lämmlein! Und Christus soll Gleiches
getan haben? Überdenket es doch, ihr Christen! Seht, was ihr aus
eurem Meister habt machen lassen!
Gleichnisse, Bergpredigt
Diese Perlen der Evangelien sind ohne wesentliche Veränderungen
erhalten geblieben. Doch wird auch hier manches klarer,
leuchtender. Hören wir diese kleine Berichtigung:
»43/5) Es ist leichter, dass ein Kamel durch das Tor des Nadelöhrs
gehe, denn dass ein Reicher in das Reich Gottes gelange.«
Städte des Orients haben zum Teil noch heute grosse Stadttore, die
bei Sonnenuntergang geschlossen werden. Wünscht ein verspäteter
Wanderer noch Einlass, so wird ihm dieser durch eine kleine
Nebenpforte gewährt, und diese heisst, im Vergleich zum grossen
Tor, heute noch in arabischer Sprache »das Nadelöhr«.
Und siehe: da kann auch ein Kamel durchgehen! Aber nur, wenn
es keinerlei Lasten mehr trägt und gutwillig und vernünftig den
Kopf senkt und die Knie beugt!
Also: nicht Besitz an sich verdammt einen Menschen, sondern die
Art der Verwendung eines Besitzes, besonders wenn er durch
eigene Leistung erarbeitet ist, entscheidet, ob er dem Träger zum
Fluche oder zum Segen wird. — Wieder wird, durch ein Wörtlein, Unsinn zu Sinn.
Auch das Wort vom Frieden und Schwert, das zwar auch in der
Bibel, wenn geistig aufgefasst, tiefen Sinn verkündet, liest sich hier
anders:
»17/14) Wahrlich, ich bin gekommen, den Frieden zu senden auf
die Erde; doch siehe, wenn ich spreche, folgt mir ein Schwert. Ich
bin gekommen, zu vereinigen; doch siehe, ein Sohn mag wider
seinen Vater sein und eine Tochter wider ihre Mutter und eine
Schwiegertochter wider ihre Schwiegermutter. Und eines Menschen
Feinde mögen seine eigenen Hausgenossen sein. Denn die
Ungerechten können nicht mit den Gerechten zusammen sein.
15) Und wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und mir nachfolget,
der ist meiner nicht wert. Wer sein Leben findet, der wird's
verlieren; und wer sein Leben verlieret um meinetwillen, der
wird's finden.«
Um meinet willen = um der Wahrheit willen.
»43/14) Höret mich also, nicht allein unreine Sachen, welche in
den Körper eingehen, verunreinigen den Menschen, sondern auch
die üblen und unreinen Gedanken, welche sie aus ihren Herzen
ausgiessen, verunreinigen den innern Menschen und ebenso die
andern. Darum beherrschet eure Gedanken und reinigt eure
Herzen und lasset eure Nahrung rein sein.
47/5) Und ich habe euch gesagt, ihr sollt nicht ehebrechen. Aber
ich sage euch, wenn ein Mann und Weib sich in Ehe verbinden mit
kranken Körpern und kranke Nachkommen zeugen, so sind sie
schuldig, wenn sie auch nicht ihres Nächsten Weib genommen
haben . . .
6) Und ich sage euch abermals: Jeder, der den Leib irgend eines
Geschöpfes zur Nahrung, zum Vergnügen oder zum Gewinn zu
besitzen sucht, verunreinigt sich hierdurch.«
Wiederverkörperung
»34/7) Und Jesus kam in ein Dorf und sah dort eine kleine Katze,
die herrenlos war, und sie litt unter Hunger und schrie. Und er
nahm sie in seine Arme und hüllte sie in sein Gewand und liess sie
an seiner Brust ruhen.
8) Und als er weiter in das Dorf hineingekommen war, gab er der
Katze Nahrung und Trank. Und sie ass und trank und zeigte ihm
Dankbarkeit. Und er gab sie einer seiner Jüngerinnen, welche eine
Witwe war mit Namen Lorenza, und sie nahm sie in Pflege.
9) Und einige aus dem Volke sprachen: »Dieser Mann sorget für
alle Tiere. Sind sie seine Brüder und Schwestern, dass er sie so
liebet?« Und er sprach zu ihnen: »Wahrlich, diese sind eure
Mitbrüder aus dem grossen Haushalte Gottes, eure Brüder und
Schwestern, die den selben Atem des Lebens vom Ewigen
haben.
10) Und wer immer für die Kleinsten von ihnen sorget und gibt
ihnen Speise und Trank, als sie nötig haben, der tuet dieses mir,
und wer es duldet, dass sie Hunger leiden, und sie nicht schützt,
wenn sie misshandelt werden, erleidet dieses Übel, als ob er es mir
zugefügt hätte. Denn ebenso wie ihr in diesem Leben getan habt,
so wird es euch im kommenden Leben getan werden.«
Der letzte Satz drückt, wie nebenbei, die selbstverständliche
Überzeugung des Ostens aus. — Tiernarren mögen beachten, dass
wir Tieren nur geben sollen, was »sie nötig haben«! Das schliesst
alle Verhätschelung, Verzärtelung und dadurch gegenseitige
Versklavung aus.
»41/10) Und es war ein Mann, der von Geburt an blind war. Und
er leugnete, dass es solche Dinge gebe wie die Sonne, den Mond
und die Sterne, oder dass es Farben gäbe. Und sie versuchten
vergeblich, in zu überzeugen, dass andere Menschen diese Dinge
sähen. Und sie brachten ihn zu Jesus, und er salbte seine Augen
und machte ihn sehend.
11) Und er freute sich mit Staunen und Furcht und beteuerte, dass
er zuvor blind gewesen sei. Und nun sprach er: »Ich sehe alles, ich
weiss alles, ich bin ein Gott.«
12) Und Jesus sprach abermals zu ihm: »Wie kannst du alles
wissen? Du kannst nicht sehen durch die Wände deines Hauses,
noch lesen die Gedanken deiner Mitmenschen, noch verstehen die
Sprache der Vögel oder der wilden Tiere. Du kannst nicht einmal
die Ereignisse deines früheren Lebens, deine Empfängnis oder
deine Geburt in dein Gedächtnis zurückrufen.
13) Erinnere dich mit Demut, wie viel dir unbekannt ist, ja,
unsichtbar. Und wenn du also tuest, dann wirst du klarer sehen.«
59/10) Aber der Knecht, der seines Herrn Willen weiss und hat
sich nicht bereitet, auch nicht nach seinem Willen getan, der wird
viel Streiche leiden müssen. Der es aber nicht weiss, hat aber
getan, was der Streiche wert ist, wird wenig Streiche leiden. Denn
welchem viel gegeben ist, bei dem wird man viel suchen; und
welchem wenig gegeben ist, von dem wird man wenig fordern.
11) Darum werden die, welche die Gottheit kennen und den Weg
des Lebens und die Geheimnisse des Lebens und dennoch in Sünde
gefallen sind, mit schwereren Strafen bestraft werden, denn jene,
welche den Weg des Lebens nicht gekannt haben.
12) Diese werden zurückkehren, wenn der Kreis vollendet ist, und
ihnen wird Zeit gegeben werden zu lernen, auf dass sie eingehen
können in das Reich des Lichtes.«
Schwerer bestraft werden = zur Wirkung, die eine Übertretung
eines Lebensgesetzes verursacht, kommt bei dem, der klar weiss,
verschlimmernd noch die Qual des Gewissens.
»37/1) Jesus sass in der Vorhalle des Tempels, und viele waren
gekommen, um seine Lehre zu hören. Und einer fragte ihn: »Herr,
was lehrest du vom Leben?«
2) Und er sagte zu ihm: »Selig sind, die viele Erfahrungen
durchmachen; denn sie werden durch Leiden vollkommen werden.
Sie werden sein wie die Engel Gottes im Himmel, und sie
werden nimmer sterben, noch werden sie wiedergeboren werden;
denn Tod und Geburt haben keine Herrschaft mehr über sie.
3) Die da gelitten und überwunden haben, werden zu Pfeilern
gemacht werden im Tempel meines Gottes, und sie werden ihn nie
wieder verlassen. Wahrlich, ich sage euch, wenn ihr nicht
wiedergeboren werdet durch Wasser und Feuer, so werdet ihr das
Himmelreich nicht sehen.«
94/1) Es gibt keinen Tod für die, welche an das kommende Leben
glauben. Was ihr für den Tod haltet, ist das Tor zum Leben, und
das Grab ist die Auferstehung für die, welche glauben und
gehorchen. Trauert nicht noch weinet um die, die euch verlassen
haben, sondern freuet euch lieber über ihren Eintritt ins Leben.
2) So wie alle Geschöpfe aus dem Unsichtbaren hervorgehen in
diese Welt, so kehren sie zurück zu dem Unsichtbaren, und so
werden sie wiederkommen, bis sie gereinigt sein werden . . .
3) Es gibt eine Auferstehung aus dem Körper und eine Auferstehung
in den Körper. Es gibt ein Aufsteigen des Lebens aus dem
Fleische und ein Herabsteigen in das Leben des Fleisches.
4) Der Körper, den ihr in das Grab leget oder der durch das Feuer
verzehrt wird, ist nicht der Körper, der sein wird; denn die
kommen, werden andere Körper erhalten, wenn auch ihre
eigenen, und was sie in einem Leben gesäet haben, das werden sie
ernten in einem anderen. Selig sind, die Unrecht leiden in diesem
Leben; denn sie werden grössere Freude erleben in dem kommenden
Leben. Selig sind, die Rechtschaffenheit geübt haben in
diesem Leben; denn sie werden die Krone des Lebens empfangen.«
Kirche und Priestertum können nur leben, wenn sie sich zwischen
den Menschen und Gott hineinschieben können, wenn sie allein es
in der Hand haben, der armen Seele mit klapperndem Schlüssel
den Himmel auf zuschliessen. Alles Mittler- und Vermittlertum
zerreisst die Gottverbundenheit, stösst den einzelnen aus Midgard
in Utgard (tau-140) und lässt ihn dadurch willenlose Beute
machthungriger Menschen und Organisationen werden.
Die Lehre der Wiedergeburt wirkt solcher Versklavung entgegen.
Jeder hat sein Schicksal selber verschuldet und erntet die Früchte
eigener Taten. Nicht Vater und Mutter, nicht Vererbung und
Erziehung kann er verantwortlich machen und sich dadurch der
Verantwortung entziehen. Er hat durch seine Wesensart, vor und
bei der Zeugung Vater und Mutter und Umwelt gewählt, und sie
bringen ihm die Widerstände, um an ihnen zu wachsen, was er für
seine Entwicklung nötig hat.
Doch nicht nur nach rückwärts, auch nach vorwärts werden
Freiheit und Eigenheit und Würde des einzelnen Menschen
hergestellt. Er kann dazu beitragen, seine Lebensgesetze erkennen
zu lernen und sich ihnen einzuordnen, also fortan »nicht mehr zu
sündigen«, je mehr er die Gotteskraft in seinem Innersten zu
finden und zu leben vermag. Der Weg zu Gott als wirkende Kraft
führt immer tiefer ins ureigene Wesen hinein; denn »das ICH und
der Vater sind eins«.
Was soll da besoldetes Mittlertum? Was hat es mit der Gotteskraft
zu tun? Hier dürften die tieferen Gründe liegen, warum die
Gnostiker und die Lehren vom einheitlichen Seelengrund und der
Möglichkeiten, eigenen Sich-höher-arbeitens, unterdrückt wurden
und ausgerottet werden sollten. Der Freie ist kein williger
Sklave. Sollte er ins Joch gespannt werden können, musste seine
Eigenheit erst gebrochen, musste seine Freiheit erst geraubt, seine
Gott Verbundenheit zerrissen werden. Das ist auch mit grossem
Erfolg getan worden. Wir erleben die grauenhaften Auswirkungen.
Über das Alter Jesu findet sich:
»95/9) Und es war Mittsommer, da Jesus gen Himmel aufstieg,
und er hatte noch nicht sein fünfzigstes Jahr erreicht; denn es war
notwendig, dass sieben mal sieben Jahre sollten erfüllet sein in
seinem Leben.«
Vater und Mutter unser
Das ICH und der Vater wollen und sollen eins sein. Unsere
innerste Wesenheit ist Gotteskraft. In ihr sollen wir geborgen sein,
und aus ihr sollen wir wirken.
Doch wir haben unseren Eigenwillen gebraucht, um uns der
Gotteskraft gegenüberzustellen. Da ist sie uns fremd geworden.
Wir haben sie aus unserem Herzen verstossen und sie weit hinter
die Sterne vertrieben. Und dort haben wir, die wir nun heimatlos
und entwurzelt sind, sie eingekleidet, sie nach unserem Bilde
vermenschlicht, verpersönlicht. Die alten Zeiten des Mutterrechts,
der Erdverbundenheit der Frau und Mutter, empfanden
die göttlichen Kräfte mehr als mütterlich. Als der Umbruch kam
und der Mann durch vaterrechtliche Staatsgewalt die mütterlichsoziale
Volksgemeinschaft zerstörte und die Herrschaft an sich
riss, da stellte er auch männliche Gottheiten auf die Bühne. Gott ist
Mann geworden, und die fraulich-mütterliche Gottheit, die
Gotteskraft, liegt in Ketten. Selbst da, wo versucht wird, die
Gottheit in ihren drei wesentlichsten Teilen zu erfassen, haben wir
drei Männlichkeiten ohne jede Fraulichkeit: Vater, Sohn und
Heiligen Geist. Wie sollte die Welt ohne mütterlich-gebärende
Kraft, nur mit väterlich-zeugendem Willen gesund und harmonisch
sein können? Maria, die milde, die göttliche Frau gehört in
die Schöpfung, wenn schon wir uns vermenschlichende Vorstellungen
machen wollen.
»19/3) Unser Vater-Mutter, das du über uns bist und in uns,
geheiliget sei dein Name in zweifacher Dreieinigkeit. Dein Reich
komme zu uns in Weisheit, Liebe und Eintracht. Dein Wille
geschehe wie -im Himmel so auf Erden. Gib uns täglich dein
heiliges Brot und die Frucht des lebendigen Weinstocks. Und wie
du uns vergibst unsere Schulden, so mögen auch wir vergeben
allen, die gegen uns schuldig werden. Giesse deine Güte aus auf
uns, damit wir desgleichen tun. In der Stunde der Versuchung
erlöse uns von dem Übel.
4) Denn dein ist das Reich, die Kraft und die Herrlichkeit: von
Ewigkeit zu Ewigkeit. Jetzt und in alle Ewigkeit. Amen.«
Die zwölf Gebote
»46/7) Und Jesus sprach zu seinen Jüngern: »Siehe, ich gebe euch
ein neues Gesetz, welches aber nicht neu ist, sondern alt. Ebenso
wie Moses die Zehn Gebote über das Fleisch gab, also will ich euch
die Zwölf Gebote für das Königreich Israel nach dem Heiligen
Geiste geben.
8) Wer ist das Israel Gottes? Alle jene jeglichen Volkes und
Stammes, welche Gerechtigkeit üben, Liebe und Barmherzigkeit
und meine Gebote befolgen, diese sind das wahre Israel Gottes.«
Und sich erhebend sprach Jesus:
9) »Höre, o Israel, Jova, dein Gott ist eins; meiner Seher und
Propheten sind viele. In mir leben und bewegen sich alle und
haben ihr Leben.
10) Ihr sollt nicht das Leben irgendeinem Geschöpfe aus Vergnügen
nehmen noch es quälen.
11) Ihr sollt nicht das Gut eines andern stehlen, noch Länder und
Reichtümer sammeln für euch selbst über eure Bedürfnisse und
euren Gebrauch.
12) Ihr sollt nicht das Fleisch essen noch das Blut eines getöteten
Geschöpfes trinken, noch etwas, welches Schaden eurer Gesundheit
oder euren Sinnen bringt.
13) Ihr sollt keine unreinen Ehen schliessen, wo nicht Liebe und
Gesundheit herrschen, noch euch selbst verderben oder irgendein
Geschöpf, das von dem Heiligen als rein geschaffen worden ist.
14) Ihr sollt kein falsches Zeugnis geben gegen euren Nächsten,
noch mit Willen jemand täuschen durch eine Lüge, um ihm zu schaden.
15) Ihr sollt niemandem tun, was ihr nicht wollt, dass man euch tue.
16) Ihr sollt anbeten das eine Ewige, das Vater und Mutter ist im
Himmel, von dem alle Dinge kommen, und ehren seinen heiligen Namen.
17) Ihr sollt euren Vater und eure Mutter, welche für euch sorgen,
ehren, ebenso alle Lehrer der Gerechtigkeit.
18) Ihr sollt die Schwachen und Unterdrückten und alle, welche
Unrecht leiden, lieben und beschützen.
19) Ihr sollt mit euren Händen die Dinge erarbeiten, welche gut
und schicklich sind. So sollt ihr essen die Früchte der Erde, auf dass
ihr ein langes Leben habet.
20) Ihr sollt euch reinigen alle Tage und am siebenten Tage
ausruhen von eurer Arbeit, den Sabbat und die Feste eures Gottes
heiligen.
21) Ihr sollt den anderen tun, was ihr wollt, dass man euch tue.«
Gott und die Fische
»57/7) Da kamen etliche, die ungläubig waren, zu Jesus und
sprachen: »Du hast uns gesagt, dass unser Leben von Gott sei, aber
wir haben Gott niemals gesehen, noch kennen wir einen Gott.
Kannst du uns ihn zeigen, den du Vater-Mutter nennst und den
einzigen Gott? Wir wissen nicht, ob es einen Gott gibt.«
8) Jesus antwortete ihnen und sprach: »Hört dieses Gleichnis von
den Fischen. Die Fische eines Flusses sprachen miteinander und
sagten: Man behauptet, dass unser Leben vom Wasser komme,
aber wir haben nie Wasser gesehen, wir wissen nicht, was es ist.
Da sprachen etliche von ihnen, welche klüger waren als die
andern: Wir haben gehört, dass im Meere ein kluger und gelehrter
Fisch lebt, der alle Dinge kennt. Lasset uns zu ihm gehen und ihn
bitten, dass er uns das Wasser zeige.
9) So machten sich einige von ihnen auf, um den grossen und
weisen Fisch zu suchen, und sie kamen endlich in die See, wo der
Fisch lebte, und sie fragten ihn.
10) Und als er sie gehört hatte, sprach er zu ihnen: Oh, ihr
dummen Fische! Klug seid ihr, die Wenigen, die suchen. Im
Wasser lebt ihr und bewegt ihr euch und habt ihr euer Dasein; aus
dem Wasser seid ihr gekommen, zum Wasser kehret ihr wieder
zurück. Ihr lebet im Wasser, aber ihr wisst es nicht. — Ebenso lebt
ihr in Gott, und doch bittet ihr mich: Zeige uns Gott! Gott ist in
allen Dingen, und alle Dinge sind in Gott«
Ich und Wir
Keiner sei gleich dem andern
doch gleich sei jeder dem Höchsten.
Wie das zu machen?
Es sei jeder vollendet in sich.
{Bhagavad Gita (und
Schiller)}
Ich und wir! — Diese beiden Begriffe umfassen das ganze Leben.
Mensch und Familie, Mensch und Volk, Mensch und Natur,
Mensch und Gott — immer lautet die Frage: Ich und Gemeinschaft.
Und immer ist es die grosse Schicksalsfrage des Lebens.
Ich und wir! — Sind es polare Gegensätze, die neu aufgelöst
werden können? Gibt es hier nur ein Entweder — Oder? Heisst es:
Ich oder wir? Ist soziale Gemeinschaft, ist sinnvolle Ordnung
praktisch nur möglich durch Verzicht auf Persönlichkeit?
Oder bedingen sich die Gesundheit eines Ich und eines Wir gegenseitig?
Ist nicht gesunde Selbstenfaltung der eigenen innersten Kräfte
Voraussetzung gesunder Gemeinschaft?
Klarheit ist hier dringend notwendig. Doch nun gibt es ein grosses
Verstehen, das sich nicht in Worte fassen lässt. Oft erschweren
viele Worte das Verstehen. Man hört Musik, man sieht ein Bild,
eine Landschaft, man begegnet einem Menschen — und ein
Leuchten kommt in die Augen, ein Lächeln über die Lippen — und
wenn wir darüber reden wollten, so bliebe nicht mehr viel übrig.
Jeder Künstler hat schon schmerzlich erlebt, wie weit eine äussere
Gestaltung meist hinter der ursprünglichen inneren Empfindung
zurückbleibt. So ist es auch mit den grossen Wahrheiten. Da lässt
sich nur in Bildern, in Gleichnissen sprechen. Jesus war ein
Meister darin. »Wer Ohren hat zu hören, der höre!«
Was für ein umfassend wunderbares Leben ruht in den Runen, in
alten Symbolen, in Hieroglyphen und chinesischen Schriftzeichen,
in geometrischen Figuren! Denken wir nur an Kreis und
Kreuz im Dreieck!
Der Kreis ist der Ausdruck der unendlich in sich geschlossenen
Ganzheit und Ruhe. Kreis, Kugel: All, Gott. Als Zahl: eins.
Das Kreuz nagelt zwei Gegenkräfte aneinander: Ja und Nein.
Kreuz: Mensch. Als Zahl: zwei.
Aller guten Dinge sind drei. Die Drei macht den Gegensatz des Ja
und tut des Nein fruchtbar in der übergeordneten Synthese des
trotzdem. Das Dreieck der Drei-Einigkeit.
Das magische Quadrat nun wirft ein wunderbares Licht auf die
Frage »Ich und wir«, sobald uns ein Schlüssel seinen Sinn zu
öffnen vermag. Diesen Schlüssel bietet uns das »Evangelium des
vollkommenen Lebens«.
In dieser Niederschrift finden sich auch eigenartige Stellen, die nur
aus dem Wissen um die Zahlenmystik des magischen Quadrates
verstanden werden können. Zugleich erhellen sie einige Stellen in
der Luther-Bibel, deren Sinn bisher nicht erfasst werden konnte.
Dabei ist unwesentlich, ob diese Ausführungen »geschichtlich«
richtig sind. Die Tatsache des magischen Quadrates kann jeder
leicht nachprüfen, und der innere Sinn besteht unabhängig von
Darlegungen, wie sie nachstehend mitgeteilt werden. Doch freuen
wir uns der klaren Beleuchtung, die sich uns hier bietet.
Das magische Quadrat der Elf
Die Zahlen 1 — 121 werden in 11x11 = 121 Felder nach einer
bestimmten Regel eingeordnet. Im Mittelpunkt steht 61, die Zahl
mitten zwischen 1 und 121.
Das Quadrat hat 11 waagrechte und 11 senkrechte Reihen von je
11 Zahlen. Zählen wir die Ziffern dieser 22 Reihen zusammen, so
finden wir 22mal die gleiche Summe: 671. Das ist
11 x 61 = 671.
Das Zauberquadrat ergibt aber noch ein drittes mal 11 solcher
Gesamtsummen von je 671 und zwar wie folgt:
Die 11 Zahlen der beiden Diagonalen ergeben auch je 671. Die
letzten 9mal 671 ergeben sich durch etwas verwickeitere Zählkunst.
Die vier Eckzahlen des ganzen Quadrates ergeben zusammen
244, ebenso die vier Eckzahlen des nächst inneren Quadrates
(die auf den Diagonalen liegen) und so fort bis zum innersten und
letzten Quadrat, das unmittelbar um das mittelste Feld mit der
Zahl 61 liegt. Das ergibt 5mal die Zahl 244. Die 7 Zahlen in jedem
der beiden Balken, die das mittlere Kreuz darstellen, ergeben
zusammen je 427, und 427 + 244 = 671.
Das sind 5 weitere Summen von 671.
Die letzten 4 Summen ergeben sich im Mittelkreuz. Die 7 Zahlen
eines jeden Querbalkens ergeben, wie bereits bemerkt, 427, und
die vier mittleren Zahlen eines jeden Balkens (2 auf jeder Seite der
Zahl 61) ergeben 244, also gleich wie die 4 Endzahlen (2 an jedem
Ende) jedes Kreuzarms. So ergeben sich durch Addition der
Zahlen in jedem Kreuzbalken mit den 4 Zentralzahlen oder den 4
Endzahlen nochmals 4 Gesamtzahlen von 671.
Es ist also auf nicht weniger als 33 verschiedene Arten möglich, 11
von den 121 Zahlen zusammenzuzählen mit dem steten Ergebnis
von 671, der Zahl, die gleich 11 mal 61 ist.
Der Hinweis im Evangelium
Hören wir nun, was unser aramäisches Evangelium unter sinngemässem
Hinweis auf das magische Quadrat der Elf zu melden weiss.
»68/17) Und Jesus sammelte alle seine Jünger um sich an einer
Stätte. Und er sprach zu ihnen: »Könnt ihr Vollkommenheit
geben dem, was unvollkommen ist? Könnt ihr Ordnung machen
aus Unordnung?« Und sie antworteten: »Nein, Herr.«
18) Und er stellte sie auf, jeden nach seiner Ziffer in ein Viereck, an
jeder Seite einen weniger als Zwölf, und er tat so, da er wusste, wer
ihn verraten würde (und den die Menschen als einen von ihnen
ansehen würden, nicht aber sie).
19) Den ersten von der siebenten Reihe von oben in der Mitte, und
den letzten in der siebenten Reihe von unten, und ihn, der weder
der erste noch der letzte war, machte er zum Mittelpunkte, und die
übrigen stellte er auf nach einer göttlichen Ordnung, und jeder
fand seinen Platz, so dass die oberen ebenso wie die unteren und
die unteren ebenso wie die oberen standen und die linke Seite
gleich war der rechten und die rechte Seite gleich war der linken
nach der Summe ihrer Zahlen.
20) Und er sprach: »Sehet ihr, wie ihr stehet? Ich sage euch, in
ebensolcher Weise ist die Ordnung im Reiche Gottes, und das
Eine, das alle regieret, ist in eurer Mitte, und es ist der
Mittelpunkt, und mit ihm sind die hundertzwanzig, die Auserwählten
von Israel, und nach ihm kommen die hundertvierundvierzigtausend,
die Auserwählten der Heiden, welche ihre Brüder
sind.«
Hier ist die äussere Form sehr klar beschrieben. Das innere Wesen
geht aus einer anderen Stelle deutlicher hervor.
»54/17) Und Jesus, da er an einen Ort kam, wo sieben Palmbäume
wuchsen, versammelte seine Jünger um sich und gab jedem eine
Zahl und einen Namen, welche nur der kannte, der sie empfing.
Und er sprach zu ihnen: »Stehet wie Pfeiler in dem Hause Gottes
und führet aus die Befehle gemäss den Ziffern, die ihr erhalten
habt.«
18) Und sie standen rings um ihn, und sie bildeten ein Viereck und
zählten die Ziffern, aber sie konnten es nicht. Und sie sprachen:
»Herr, wir können es nicht.« Und Jesus sprach: »Lasset den,
welcher der grösste unter euch ist, gleich sein dem geringsten, und
das Zeichen des ersten gleich dem Zeichen des letzten1).«
1) die und die 121 gleich nah bei der 61, die 1 darunter, die 121 darüber.
19) Und so taten sie, und in jeglicher Weise ward Gleichheit, und
doch trug jeder eine andere Zahl, und die eine Seite war wie die
andere, und die obere war wie die untere, und die innere war wie
die äussere. Und also ist das Haus des weisen Baumeisters.
Viereckig ist es und vollkommen. Der Räume sind viele, aber es ist
nur ein Haus.
20) Betrachtet wieder den Leib des Menschen, welcher ein Tempel
des Geistes ist. Denn der Leib ist eins mit dem Kopfe, und es ist ein
Körper. Und er hat viele Glieder, doch alle sind zusammen ein
Körper, und der Geist beherrscht und regiert alles. Also ist es im
Reiche Gottes.
21) Und der Kopf spricht nicht zum Busen, ich brauche dich nicht,
noch die rechte Hand zu der linken, ich brauche dich nicht, noch
der linke Fuss zum rechten, ich brauche dich nicht; weder die
Augen zu den Ohren sprechen, wir brauchen euch nicht, noch der
Mund zu der Nase, ich brauche dich nicht. Denn Gott hat jegliches
Ding dorthin gesetzt, wo es am besten tauget.
22) Wenn der Kopf das ganze wäre, wo wäre die Brust? Wenn die
Eingeweide das wichtigste wären, wo wären die Füsse? Ja, diese
Glieder, welche etliche für weniger ehrenwert halten, hat Gott mit
der meisten Ehre versehen.
23) Und jenen Teilen, welche etliche für ungut halten, denen ist
um so mehr Gutes gegeben worden, auf dass sie füreinander
sorgten. So leiden alle Glieder, auch wenn nur eines von ihnen
leidet, und wenn eines dieser Glieder geehrt wird, so erfreuen sich
dessen alle anderen Glieder.
24) Nun seid ihr mein Körper, und jedes von euch ist ein
besonderes Glied von mir, und jedem von euch gebe ich seinen
geeigneten Platz, einen Kopf über allen und ein Herz als
Mittelpunkt von allen, auf dass nirgendwo eine Lücke sei, auf dass
ebenso wie eure Körper, eure Seelen und euer Geist, auch ihr
preiset das All-Vater-Mutter durch den heiligen Geist, der da
wirket in allen und durch alle.«
52/8) Und als seine Jünger mit ihm an einem einsamen Orte
waren, fragte ihn einer über das Reich Gottes, und Jesus sprach zu
ihnen:
»9) So wie oben, so auch unten. So wie es innen ist, so auch aussen.
Wie zur Rechten, so auch zur Linken. Wie es vorne ist, so ist es
hinten. So mit dem Grossen, wie mit dem Kleinen. So mit dem
Manne, so mit dem Weibe. Wenn ihr diese Dinge sehet, dann
werdet ihr das Reich Gottes sehen.
10) Denn in mir ist weder Mann noch Weib, aber beide sind eins in
dem einen Vollkommenen. Das Weib ist nicht ohne den Mann,
noch ist der Mann ohne das Weib.
11) Weisheit ist nicht ohne Liebe, noch ist Liebe ohne Weisheit.
Der Kopf ist nicht ohne das Herz, noch ist das Herz ohne den
Kopf, in Christus, der alle Dinge versöhnt. Denn Gott schuf alle
Dinge nach Zahl, Gewicht und Mass, eines mit dem andern
übereinstimmend.
12) Diese Dinge sind für jene, welche sie begreifen, zu glauben.
Wenn sie sie nicht verstehen, dann sind sie nicht für sie. Denn
glauben heisst verstehen, und nicht-glauben heisst nicht-verstehen.«
Die Zahl der 120 Jünger und die geheimnisvolle Namengebung
finden wir übrigens auch in der Luther-Bibel angedeutet,
»Apostelgeschichte 1/15. Und in den Tagen trat Petrus unter die
Jünger und sprach (es war aber eine Schar zuhauf bei hundertzwanzig
Namen).«
»II. Chronik 5/12. . . . und bei ihnen hundertzwanzig Priester,
die mit Drommeten bliesen.«
»Offenbarung 2/17. . . . Wer überwindet, dem will ich zu essen
geben von dem verborgenen Manna und will ihm geben einen
weissen Stein und auf dem Stein einen neuen Namen geschrieben,
welchen niemand kennt, denn der ihn empfängt.«
Die Auslegung
Was ist es nun, was Jesus uns durch das Sinnbild des magischen
Quadrates eindrücklich klarzumachen sucht?
Vorerst sei bemerkt, dass es sich weder bei den 120 noch bei den
144000 im wesentlichen um eine Beschränkung in der Zahl nach
oben handelt. Aus allen ungeraden Zahlen sollen sich bei
sinnentsprechender Anordnung der Reihenfolge der Zahlen magische
Quadrate bilden lassen, also auch
von unendlich grossen Zahlen.
In unendlich grossen Quadraten
hätten daher alle Menschen, alle Tiere,
alle Pflanzen, alle Wesen, die
ganze Schöpfung in all ihren einzelnen Teilen Platz.
Sinngemäss bedeutet der Zustand des Reiches Gottes die vollkommene
Ordnung und Erfüllung einer Gemeinschaft und all ihrer Teile.
Diese grosse Ordnung ist nur möglich und ergibt sich von selber,
wenn jedes zugehörige Einzelwesen nichts anderes lebt als seinen
Namen, seine Zahl, seine innere Bestimmung. Unordnung dagegen,
wie wir sie heute auf allen Gebieten des Lebens feststellen
müssen, stellt sich ebenso zwangsläufig ein, wenn einzelne in
anderen als den ihnen zugehörigen Feldern stehen oder wenn sie
andere Aufgaben zu erfüllen versuchen als die ihnen innerlich
entsprechenden.
Da werden, oft in bester Absicht, grosse Fehler begangen.
Geringschätzig wird bisweilen von solchen gesprochen, die »nur
tun, was sie innerlich befriedigt«. Wir hätten »unsere Pflicht« zu
erfüllen, und sie verlange oft das Gegenteil von dem, was uns im
Augenblick passen würde. Wer immer nur den leichtesten Weg
des geringsten Widerstandes, seines flüchtigen Vergnügens gehen
wolle, der betrüge sich selber um sein Bestes.
Gewiss, der schaffende Mensch braucht einen weiten Spannungsbogen,
und in Erstrebung hoher Ziele geht er unverdrossen
manchen beschwerlichen Weg. Vielen Menschen fehlt heute diese
Zähigkeit und Durchsetzungskraft, und es soll keinerlei Arbeits- und
Verantwortungsscheu, keinem leichtsinnigen Sich-treibenlassen,
das Wort geredet werden. Doch wer aus falschem
»Pflichtgefühl« immer wieder seine innersten Herzensregungen
abdämpft, wer aus schwächlicher Rücksicht einen faulen Frieden
aufrecht zu erhalten sucht, wer aus innerer Trägheit oder
Müdigkeit sich vor Wandlungen sträubt, der schadet nicht nur
sich, sondern auch den anderen. Wenn andere uns und unser
Selbstbestimmungsrecht nicht achten, so müssen sie durch unseren
ruhigen, sachlich-freundlichen Widerstand zur Besinnung
gebracht werden, und das geht meist nur unter Schmerzen. Oft
müssen sie sich erst die Stirn blutig rennen und durch Verzweiflung
gehen, ehe sie Bequemlichkeit und Trotz zu überwinden vermögen.
Es müsste hier sehr vieles beigefügt werden, und auch dann liessen
sich nicht alle Missverständnisse vermeiden. Auf einiges sei noch
hingewiesen:
Niemand soll aus Verpflichtungen, die er eingegangen ist, davonlaufen,
auch dann nicht, wenn er unüberlegt sich verpflichtet hat.
Er soll auf jeden Fall ehrliche, saubere Lösungen zu erreichen
suchen, und erst, wenn er trotz Güte und Langmut den Unverstand
und die Bösartigkeit der anderen nicht zu überwinden
vermag, so wird Notwehr zu Pflicht. Dabei wird er nach
Möglichkeit wieder versuchen, dem andern, auch wenn er ihn
abwehrt, nicht zu schaden, sondern ihm zu nützen.
Manchmal erfordert unser Weg, dass wir Verhältnisse, die uns
und andern lieb und vertraut und bequem geworden sind,
wandeln oder auflösen. Auch da sollen wir in aller Güte zuerst
Hinsicht in die Notwendigkeit zu wecken und eine gütliche
Verständigung zu erreichen suchen. Wehtun dürfen wir erst,
wenn wir keinen anderen Weg mehr sehen, und wenn es uns selber
auch weh tut. Nichts soll in Aufregung oder gar in Gereiztheit
oder Gehässigkeit geschehen. Dies gilt auch, wenn wir eine
Wahrheit zu sagen haben, die weh tut. Gandhi erklärt:
»Vor allem die Wahrheit (Satya)! Doch es gibt keine Wahrheit
ohne Güte (Ahimsa)«.
Wer hasst, kann die Wahrheit, die Wirklichkeit der grossen
Zusammenhänge und Ursachen nicht sehen, er ist geblendet. Er
kommt aus der Qual der Zweiheit nicht zur neuen Einheit: der
Dreiheit.
Als ich mich in der Ernährung umstellte, fürchtete meine Mutter
um meine Gesundheit. Sie schüttelte den Kopf und meinte:
»Du bist sonst schon so mager, und jetzt willst du nicht einmal
mehr richtig essen!«
Ich verstand diese Sorge und Güte und beruhigte sie:
»Es ist doch nur ein Versuch! Wir beobachten beide einige Zeit,
und wenn mir das neue Essen nicht bekommt, so kehre ich wieder
um. Abgemacht?«
Nun, der »Versuch« dauert schon mehr als dreissig Jahre, und seit
langem macht meine Mutter, macht unser ganzer Familienkreis im
wesentlichen mit. Eine so wunderbare Macht ist die Wahrheit,
wenn sie wirklich verstehend umfasst, wenn sie gütig ist und wenn
sie Geduld hat.
»Jesus gab jedem eine Zahl und einen Namen, welche nur der
kannte, der sie empfing.«
Jesus oder Christus ist hier der unwesentliche Name für das
Wesentliche: die Gotteskraft, die über uns und in uns ist. Diese
Kraft hat jedem Wesen der Schöpfung seine Zahl gegeben, und
jedes Geschöpf kann nur seine eigene Zahl erkennen und wissen
und leben. So auch jedes Kind.
Meine Zahl und Aufgabe kann nur ich selber erkennen: das gilt im
Grunde für jedes Lebewesen. Der Weg zum innern Wissen, zu
Gott führt hinein ins eigenste, nicht hinaus. Praktisch entscheidend
für unser Erkennen und Handeln ist die lebendige Gotteskraft
in uns, nicht ein in unsere Vorstellungen und Wünsche
eingekleideter Gott über uns.
Diese Einsicht lehnt schärfstens jede Autorität von aussen und jede
erklügelte Organisation der Lebendigkeit des Geistes ab. Wer dem
Ganzen richtig dienen will, der muss in seiner besonderen
Wesenheit leben, der muss fremden Einfluss, der muss Vergewaltigung
jeder Art nach Kräften abwehren. Das gilt für jeden
einzelnen wie für jedes Volk und jede Rasse. Bevormundung und
Mittlertum im üblichen Sinne sind Irrwege für das Diesseits wie
für das Jenseits.
Das heisst nun nicht, dass wir uns Anregungen, die von aussen
kommen, die aus alten Schriften oder durch Menschen uns
geboten werden, verschliessen sollen. Leben ist nur gesund, wenn
es in Beziehung steht zu allem, was lebt. Oft kann ein Wort, ein
Buch, eine Begegnung uns die Augen öffnen, kann Wahrheiten in
uns wecken und zum Klingen bringen, die sonst noch lange hätten
schlummern müssen. Wir brauchen die Verbindung mit der
ganzen Weite und Tiefe des Lebens aller Zeiten und aller Himmelsstriche.
Wichtig aber ist, dass alles von aussen in uns Kommende nur
Anregung zu eigenem Erfühlen und Durchdenken und Handeln
sein darf. Für jedes Einzelne ist nur wesentlich, was in seinem
Innersten Bejahung findet. Die Entscheidung liegt bei ihm selber.
Nicht weil es in der Edda, in der Bibel, in der Gita steht, ist etwas
für mich wahr, sondern weil mein Innerstes, das Göttliche in mir,
es als wahr erkennt.
Hier ist auf eine Gefahr zu verweisen. Mancher sagt, sein Innerstes
spreche zu ihm, und dabei ist es nur übersteigerte Triebhaftigkeit
(leiblich) oder Besessenheit (geistig), aus fehlerhafter Erziehung
oder übler Beeinflussung erwachsen, die ihre Bedürfnisse befriedigt
haben wollen. Dort hat der ehrliche Wille durch viele
mühselige Erfahrungen erst die Klarheit zu finden.
Doch diese Klarheit und innere Gewissheit kann nur errungen
werden, wenn der Suchende sich von allen Gängelbändern immer
mehr löst und unerschrocken den Weg eigener Verantwortung
beschreitet. In Freiheit zu leben, lernt sich nicht im Zuchthaus und
nicht in kirchlicher Enge. Der Weg der Freiheit ist nicht nur
unvergleichlich schön, sondern auch schmal und steil,
und hier gilt das Wort Schillers:
»Und setzet ihr nicht das Leben ein,
nie wird euch das Leben gewonnen sein.«
Wer fremden Eingriff ablehnt und abwehrt, der hüte sich ebenso,
nun selber in andere Leben einzugreifen. Er achte die gottverbundene
Selbstbestimmung jedes Wesens, wie er die seine verteidigt.
Soll endlich Ordnung werden, so hat diese Auffassung alle
Lebensgebiete zu durchdringen, besonders auch das der Erziehung.
Das bedeutet weder unbeherrschte Willkür noch Verzicht
auf Führung. Gegenseitige Achtung und Liebe bringen freudige
Einordnung und Zusammenarbeit, die viel stärker binden und
beeinflussen als Zwang, als äusseres Gebot und Verbot.
Auch da, in der Frage freier Erziehung, bestehen eine Menge
tragischer Missverständnisse und Unzulänglichkeiten. Freie Erziehung
vermeidet jede Verwöhnung genau so gut wie falsche
Strenge. Die Freiheit des Kindes findet ihre Grenze an der Freiheit
derer, die es umgeben. Sie alle sollen in lebendiger Beziehung
zueinander stehen, und jedes hat sich, möglichst mit Mitteln der
Wahrheit und Güte, für sein Lebensrecht, für seinen eigenen Weg,
zu wehren. Das Kind hat früh zu erleben, dass Liebe und Leistung
auf Gegenseitigkeit beruhen, dass, wer etwas empfangen möchte,
erst etwas zu geben hat. Eine Gemeinschaft duldet weder
Tyrannen noch Schmarotzer, und in solcher herbgesunden Luft
wachsen Kinder zu verantwortlichen schaffenden Menschen heran.
Sind die Eltern und Erzieher wahr und fest und höflich und
dankbar, so ordnet sich im allgemeinen auch das Kind willig und
froh solcher Lebensart ein. Wir haben ihm dann nicht zu befehlen
und zu verbieten, sondern wir wecken seine Einsicht, damit es
freiwillig mitmacht. Spannungen aber, die sich immer wieder
ergeben mögen, werden im Geiste der Wahrheit und Sachlichkeit
fruchtbar gemacht und dadurch überwunden.
Das Reich Gottes bedeutet die Ordnung der inneren Gesetzmässigkeit
schöpferischen Lebens, der idealen
A-kratie1).
') A-kratie und An-archie
bedeuten Nicht-Herrschaft im Sinne von Nicht-Gewaltherrschaft.
Gemeinschaft
steht im Gegensatz zu Gewalt und Zwang. Sozial-politisch weist die
praktischen Wege zu
Gemeinschaft und Frieden die Frei Wirtschaft im Sinne Silvio
Gesells.
Sehr viele Wege führen nach Rom. Doch nur ein Weg führt ans Ziel der
Einheit mit Natur und Gott, des innern Friedens und der Kraft des
Vollbringens: der eigene Weg.
Dabei ist nicht wesentlich, in was für Familien- und Berufsverhältnissen
wir stecken. Schwierigkeiten, Spannungen, Hindernisse
sind Wachstumsmöglichkeiten. Es kommt nicht so darauf an,
was wir tun, sondern wie wir uns einstellen und wie wir aus jeder
Lage das Beste machen können.
Jede Arbeit, auch die unerfreulichste, kann man richtig tun, und
zu jedem Problem und zu jedem Menschen kann man sich sachlich
stellen. An solcher Richtigkeit und Sachlichkeit aber kann man
sich innerlich freuen. Wer derart bejahend handelt, der weckt
auch bejahende, fördernde Kräfte um sich, und diese öffnen ihm
Schritt um Schritt auch neue Wege äusseren Gelingens. Von
unserer inneren Kraft aber hat alles auszugehen.
»Trachtet am ersten nach dem Reiche Gottes und seiner Gerechtigkeit,
dann wird euch alles andere von selber zufallen.«
Das »Reich Gottes« ist eine Frage der inneren Haltung. Christus =
die lebendige Gotteskraft in jedem Wesen der göttlichen Ordnung.
Christus = Mittelpunkt = 61. Erfüllt jedes einzelne Wesen
seine besondere Aufgabe, so sind immer 11 zusammen — 671, das
heisst, jedes ist 671:11 = 61 - Christus = Gotteskraft. Dabei
stehen der erste (1) und der letzte (121), der kleinste (1) und der
grösste (121) augenfällig gleich nah beim Mittelpunkt (61), der
erste darunter und der letzte darüber. Die Ersten werden die
Letzten sein, die Letzten die Ersten.
Wer ist am meisten wert in der vollkommenen Ordnung? Jedes
Wesen ist genau gleich viel wert, wenn es sein eigenstes Wesen
erfüllt. Niemand kann sinnvoll etwas Besseres tun, als sein
Innerstes (die Gotteskraft in sich) leben. Stand, Beruf und
Geschlecht, Farbe und Rasse spielen hierbei keinerlei Rolle. Ist das
kleine Tännchen im Wald weniger vollkommen als der ausgewachsene
Baum, den ein Sturm schon bald fällen kann? Ein Kind
weniger wunderbar als ein Greis, der sich schon dem Tode neigt?
Ein Naturvolk weniger gottverbunden als ein Kulturvolk mit all
seinen Zerfallserscheinungen?
Es ist daher müssig, auf äusserliche Sonderheiten hinzuweisen und
gestützt darauf hochmütige Werturteile zu fällen. Entscheidend ist
nicht, ob wir Mann oder Frau, schwarz oder weiss, Bauer oder
Staatsmann sind, sondern ob wir unser eigenes Bestes, die
gottverbundene Kraft in uns leben.
Nur Selbsterfüllung, nicht aber
Selbstverleugnung kann uns und
kann einer Gemeinschaft dienen1).
') Das ICH, unser wahres göttliches
Wesen, ist zu erfüllen, nicht das gewordene »ich« kleinlicher
Selbstsucht. Siehe Werner Zimmermann, »ICH BIN« (Drei Eichen Verlag)
Selbsterfüllung in diesem Sinne ist unsere grosse Pflicht und
zugleich birgt sie allein die umfassende Lebensbefriedigung. Es
kann daher nicht heissen: Freude oder Pflichterfüllung? Weil es
keine grössere Freude geben kann als wahre Pflichterfüllung. Alles
andere ist Selbstbetrug.
»Ich schlief und träumte, das Leben sei Freude. Ich erwachte und
sah, das Leben war Pflicht. Ich handelte und siehe, die Pflicht war
Freude!« Rabindranath Tagore. Licht wird das Leben, sinnvoll ist
das Schicksal, heiter ist die grosse Ordnung. Für jedes einzelne
Wesen lautet der Weg dazu:
»75/13) , . . Tut niemandem, was ihr nicht wollt, dass man
euch tue. Tut das, was ihr wollt, dass euch die ändern tun
sollen.«
Was ist Wahrheit?
»90/1) Und wiederum waren die Zwölf versammelt im Schatten
der Palmen, und einer von ihnen, Thomas, sprach zu den andern:
»Was ist Wahrheit? Denn dieselben Dinge erscheinen den verschiedenen
Gemütern und sogar dem gleichen Gemüte zu verschiedenen
Zeiten verschieden. Was ist also Wahrheit?«
2) Und wie sie so sprachen, erschien Jesus mitten unter ihnen und
sprach: »Die eine und die ewige Wahrheit ist in Gott allein, denn
niemand weiss, was Gott allein weiss, der das All ist im All. Den
Menschen kann die Wahrheit enthüllt werden nach ihrer Fähigkeit,
zu verstehen und zu erfassen.
3) Die eine Wahrheit hat viele Seiten, und einer sieht nur eine
Seite, der andere eine andere, und etliche sehen mehr denn eine, so
wie es ihnen gegeben ist.
4) Sehet diesen Kristall: So wie das eine Licht offenbar ist in zwölf
Flächen, ja in viermal zwölf, und jede Fläche einen Strahl von dem
Lichte zurückwirft und man eine Fläche und ein anderer eine
andere anschaut, so ist es doch der eine Kristall und das eine Licht,
das in allem scheinet.
5) Und siehe, wenn einer auf einen Berg steigt und er einen Gipfel
erreicht hat, so spricht er: Dieses ist die Spitze des Berges, lasst sie
uns ersteigen, und wenn sie diese Höhe erreicht haben, siehe, sie
sehen eine andere darüber hinaus, bis sie zu der Höhe kommen,
von der keine andere mehr zu sehen ist, wenn sie diese erreichen
können.
6) Also ist es auch mit der Wahrheit. Ich bin die Wahrheit, der
Weg und das Leben, und ich habe euch die Wahrheit gegeben, die
ich von oben empfangen habe. Und was gesehen und empfangen
wird von dem einen, wird nicht gesehen und empfangen werden
von dem andern. Was wahr erscheinet etlichen, erscheinet nicht
wahr den andern. Die im Tale unten sind, sehen nicht das, was die
sehen, so auf dem Berge stehen.
7) Doch allen ist es die Wahrheit, wie sie der einzelne Verstand
sieht, und solange, bis eine höhere Wahrheit offenbar wird, und
der Seele, die mehr Licht empfangen kann, wird mehr Licht
gegeben werden. Darum verdammet nicht die andern, auf dass ihr
nicht verdammet werdet.
8) So ihr das heilige Gesetz der Liebe halten werdet, das ich euch
gegeben habe, so soll die Wahrheit mehr und mehr euch enthüllt
werden, und der Geist der Wahrheit, der von oben kommt, wird
euch führen, und sei es auch auf vielen Irrfahrten, in die ganze
Wahrheit, so wie die feurige Wolke die Kinder Israels durch die
Wüste geleitete.
9) Seid treu dem Lichte, das ihr habet, bis euch ein höheres Licht
gegeben wird. Suchet mehr Licht, und ihr werdet im Überflusse
leben. Rastet nicht, bis ihr gefunden haben werdet.
10) Gott gibt euch alle Wahrheit, gleich einer Leiter mit vielen
Sprossen, zur Befreiung und Vervollkommnung der Seele, und die
Wahrheit von heute werdet ihr verlassen für die höhere Wahrheit
von morgen. Mühet euch um die Vollkommenheit.
11) Die das heilige Gesetz halten, das ich gegeben habe, werden
ihre Seelen retten, wie verschieden sie auch die Wahrheit sehen
mögen, die ich ihnen gegeben habe.
12) Viele werden zu mir sprechen: Herr, Herr, wir waren eifrig in
deiner Wahrheit. Ich aber werde zu ihnen sprechen: Nein, nur
damit andere sie sehen, wie ihr sie sehet, und keine andere
Wahrheit sonst. Der Glaube ohne Barmherzigkeit ist tot. Liebe ist
die Erfüllung des Gesetzes.
13) Wie soll der Glaube, den sie empfangen haben, Nutzen
bringen denen, die ihn in Ungerechtigkeit ausüben? Die, welche
Liebe haben, haben alle Dinge, und ohne Liebe gibt es nichts, das
Wert hätte. Lasset alle halten, was sie als Wahrheit erkennen in
der Liebe, wissend, dass dort, wo keine Liebe ist, die Wahrheit ein
toter Buchstabe ist ohne Wert.
14) Es bleiben Güte, Wahrheit und Schönheit, doch die grösste
von diesen ist die Güte. Wenn etliche Brüder gehasst und ihre
Herzen verhärtet haben gegen die Geschöpfe von Gottes Hand,
wie können diese, deren Augen blind und deren Herzen verhärtet
sind, für Gottes Schöpfung die Wahrheit sehen zu ihrem Heile?
15) So wie ich die Wahrheit empfangen habe, so habe ich sie euch
gegeben. Lasset sie von jedem empfangen werden nach seinem
Licht und seiner Fähigkeit, sie zu verstehen, und verfolget nicht,
die sie nach einer ändern Auslegung empfangen.
16) Denn die Wahrheit ist die Macht Gottes, und sie wird am Ende
herrschen über alle Irrtümer. Doch das heilige Gesetz, das ich
gegeben habe, ist gleich für alle und gerecht und gut. Lasset es alle
befolgen zur Erlösung ihrer Seelen!«
Das Bildnis Jesu
Das echte Bildnis Jesu ist eine Wiedergabe des Porträts, das im
Auftrag von Tiberius Cäsar in einen Smaragd gemeisselt worden
war. Diesen Smaragd gab der Kaiser der Türken später aus dem
Staatsschatz von Konstantinopel dem Papst Innozenz VIII. als
Lösegeld für seinen Bruder, der von den Christen gefangengenommen war.
Die folgenden Ausführungen sind einem Manuskript entnommen,
das sich heute im Besitz von Lord Kelly in dessen Bücherei
befindet und das eine Abschrift darstellt eines Originalbriefes von
Publius Lentullus in Rom. Die römischen Stadthalter pflegten den
Brauch, dem Senat Berichte zu schicken über wesentliche
Geschehnisse in dem Gebiet, das ihnen unterstellt war, und in den
Tagen von Tiberius Cäsar schrieb Publius Lentullus, Statthalter
von Judäa, an den Senat betreffs Jesus:
»Es ist vor kurzem ein Mann mit grosser Tugend aufgetreten
namens Jesu Christ, der noch unter uns lebt und von den Heiden
als Prophet der Wahrheit anerkannt wird, während seine Jünger
ihn den Sohn Gottes heissen. Er erweckt die Toten und heilt
Krankheiten aller Art. Er ist ein Mann von ziemlich hoher Gestalt,
anmutig, mit ehrfurchtgebietendem Gesicht, so dass, wer ihn
anblickt, Liebe und Furcht zugleich empfindet. Sein Haar hat die
Farbe der Kastanie, ist voll gereift, fliesst flach über seine Ohren,
fällt dann jedoch in mehr morgenländischer Art in Locken und
umwallt seine Schultern. Er trägt das Haar mitten auf dem Haupte
gescheitelt nach der Art der Nazariter1).
1) »Nazariter« dürfte dem Ausdruck »Nasiräer« entsprechen. Die Nasiräer waren eine vegetarisch lebende religiöse Gemeinschaft.
Seine Stirn ist glatt und sehr fein gebaut. Sein Gesicht ist ohne Fleck oder Falte und
verschönt durch ein liebliches Rot. Seine Nase und sein Mund sind
so geformt, dass nichts ausgesetzt werden kann. Sein Bart ist
dicht, von gleicher Farbe wie das Haupthaar, nicht sehr lang,
doch gegabelt. Sein Blick ist unschuldig und gereift, seine Augen
grau, klar und lebhaft. Im Verurteilen der Heuchelei ist er
schrecklich, in Ermahnungen höflich und voll guter Worte, im
Gespräch freundlich und heiter und doch auch voll würdigen
Ernstes. Niemand kann sich erinnern, ihn jemals lachen gesehen
zu haben; doch viele sahen ihn weinen. Sein Körper ist in allen
Teilen von wundervollem Ebenmass. Seine Hände und Arme
bieten einen entzückenden Anblick. Beim Sprechen ist er sehr
ruhig, bescheiden und weise. Er ist ein Mann, der durch seine
ungewöhnliche Schönheit alle anderen Menschen übertrifft.«
Graue Augen
Zu der Bemerkung, Jesu habe graue Augen gehabt, sei erwähnt:
Hans Much schreibt in seinem Roman »Meister Ekkehart«, Verlag
Carl Reissner, Dresden, 1927, auf Seite 13-14:
»Hütet euch vor dem Blau, zwiespältig ist seine Art. Wotan als
Ase trägt es genau wie der Fenriwolf. Hütet euch vor dem blauen
Arier, er ist nicht eingeweiht! Er ist Wotan und Fenriwolf
zugleich. Über dem Asen Wotan steht der Reetsucher. Der Sucher
nach der Rose.
Und über beide steigt der Graue, der Ur, das Ur, das reiner Geist
wird und Allvater. Allvater spiegelt sich im Bann des grauen
Auges mit ferner Deutung, in dem Grau, von Schlangengold
durchädert. Den dunklen Kräften ist schwarz das Sinnbild. Die
eitle Erdentrauer ist feilchenfarben. Widerspruch! Wir suchen
Farbe, schreibt der Magister, und doch — im Auge, im Werkgerät
der Seele, aus dem man auf die Seele rät, sind nur die wenigen und
die durchmischten Farben. Hütet euch vor dem Täuschungsblau.
Das Schwarze richtet sich von selbst. Das Graue, nicht zu
Beschreibende, das kühle Bannende, ist nicht nur Bild des Sinnes,
es ist auch bildgewordener Sinn.
Ihr Augen und ihre Sterne! Sternaugen — Augensterne«
Die Zahl in Mystik und Glauben1)
1) Franz Carl Endres, Die Zahl in Mystik und Glauben der Kulturvölker. Verlag Rascher, Zürich, 1935.
Der Schweizer Gelehrte Endres ist besonders durch seine Rundfunkvorträge
bekannt geworden. Ein fleissig gesammeltes Wissen
wird in volkstümlicher Form dargeboten. Es ist Geistesgut im
Sinne der Wissenschaft, kritisch gesichtet. Für schwärmerische
Romantik ist darin nicht viel Raum. Doch mystischer Sinn geht
auf im inneren Erlebnis und nicht in äusserer Phantastik, und da
bietet das Buch eine Fülle wichtiger Bausteine aus den Kulturbereichen
der meisten Völker und Zeiten, die jeder Leser in sich zu
einem Bilde ordnen wird, wie es seiner Einsicht und Reife, seinem
Wesen entspricht. Wenige sind es, die innerlich daraus Dome zu
bauen vermögen. Wer es nicht fühlt, der kann es nicht erjagen.
Einigen aber läuten herrliche Glocken und klingen
göttliche Sphären, wenn sie nur einige Abschnitt-Überschriften
lesen:
Die göttliche Eins — die Zwei des Gegensatzes — die heilige Drei
— die Vier des Materiellen — fünf, die heilige Zahl der Ischtar
(Venus) — der Sechs-Stern, das Zeichen des Makrokosmos — die
gute und die böse Sieben — die glückliche Acht — Neun, die
potenzierte heilige Drei — die Zahlen Zehn und Elf — die
Tierkreiszahl Zwölf.
»Die Mystik enthüllt tiefste Wahrheit, wundervollste Gedanken,
wenn sie in dem Gebiete bleibt, das ihr zugehört. Sie ist ein Mittel
zum Erleben dessen, was nicht erkannt werden kann. Und wenn
das Erleben als höchste Stufe des Erkennens angenommen wird,
so ist die Mystik Mittel einer solchen höchsten überintellektuellen
Erkenntnis. Eine Menschheit allerdings, die im Materialismus
versunken ist und das All gar nicht mehr anders betrachten kann
als mit den Mitteln der Ratio, man möchte sagen, deren Erlebensorgane
abgestorben oder zum mindesten abgestumpft sind, eine
solche Menschheit kommt zum falschen Schluss, dass Erlebenserfahrung
gegenüber Intellektserfahrung etwas Minderwertiges sei.
Dem ist aber nicht so. Erlebenserfahrung liegt auf einer anderen
Ebene, und sie ist der Wahrheit wesentlich näher, wenngleich
auch sie, wie alles beim Menschen, subjektiven Täuschungen
unterworfen ist«
»Die antike Esoterik hielt Eins für keine Zahl. Die Zahlenreihe
begann nach ihr mit Zwei. Eins ist reinstes Symbol des Ureinen,
des Nicht-Polar-Orientierten, des Göttlichen also. Diese Ansicht
ist psychologisch sehr einleuchtend . . , Darum sagen Upanischaden
der Inder in tiefster Weisheit über die Qualitäten Gottes nur:
»nein, nein, nein«. Dieses Nein ist unübertrefflich. Es ist die
berechtigte Antwort auf jede menschliche Frage nach der Wesenheit
Gottes«
»1 + 1 = 2. — Diese Gleichung ist esoterisch, mystisch und
magisch eine Gotteslästerung. Denn es gibt nur eine Eins, den
Allmächtigen«.
»Die Zwei ist Zweifel, Zwist, Zwietracht, Zwiespalt. Zwitter« S. 37 (Rückert).
Die ursprüngliche Eins des Tao zerfällt in China zu
Yang und Yin, in Persien zu Ormazd und Ahriman, zu ja und
nein, zu Gott und Teufel, zur Polarität.
»Da eins das ruhende des Absoluten darstellt, zwei aber das
unruhige zum Ausgleich drängende Polare, so bedarf es jener
Zahl, die die Durchsetzung des Polaren mit göttlichem Geist
symbolisiert und damit die Wirkung der Gottheit in der Welt.
Diese bedeutsame Zahl ist die drei« (S. 43), Ja — nein — trotzdem.
Fesselnd ist, was Endres über das Fünfeck der Venus zu berichten
weiss. Er stützt sich dabei auf das Buch von Dr. Martin Knapp,
Pentagramma veneris (Basel 1934).
»Dr. Knapp las in einem astronomischen Werke von Kepler, wie
dieser grosse Astronom durch die Dreiecke, welche die oberen
Planeten Saturn und Jupiter mit ihren Konjunktionen am Himmel
innehalten, zu den Grundgedanken seines Mysteriums gekommen
sei. Und Dr. Knapp versuchte nun die gleiche Operation bei der
Venus. Warum er das tat, ist ihm selbst unbekannt. Er wählte also
die oberen Konjunktionen der Venus in den letzten Jahren und
trug sie in einen Jahreskreis oder eine Ekliptik ein, nach den Orten
im Tierkreis. Es ergaben sich folgende Daten: 9. 2. 1922 — 10, <J,
1923 - 24. 4. 1925 - 21. 11. 1926 - und 1. 7. 1928.
Die Verbindung der Daten auf dem Jahreskreis lieferte das
schönste Pentagramm, das reguläre Fünfeck, die heilige symbolische
Figur der Ischtar und aller jener Göttinnen, die entweder
direkt Göttinnen des Sternes Venus sind oder Wesensbestandteile
vom Ischtarkult erhalten haben« (S. 80).
Nun rechnet Endres vor, dass bei genauester Berechnung das
Ischtar-Pentagramm nicht ganz geschlossen ist, und Knapp weist
auf die entsprechende Stelle in Goethes Faust I, wo das nicht ganz
geschlossene Pentagramm dem Mephisto erlaubt, in das Studierzimmer
zu gelangen. »Goethe wusste sehr viel von alter Symbolik,
und es ist daher sachlich durchaus möglich, dass Goethe mit
diesem nicht ganz geschlossenen Pentagramm tatsächlich das dem
synodischen Umlauf der Venus Entsprechende hat bezeichnen
wollen« (S. 81-82).
Das Fünfeck führt zur Zahl 72. Denn 360 = 5 X 72. Nun rückt
aber auch der Frühlingspunkt der Sonne, der in rund 25 920 Jahren
zu je 360 Tagen einmal den Tierkreis durchläuft, in je 72 Jahren
um einen Grad weiter. So taucht denn auch die Zahl 72 immer
wieder auf. — Als letzte Zahl nennt Endres 532, die Zahl des
grossen Osterzyklus, und er schliesst sein vorzügliches Werk in
mutiger Bejahung:
»Der Mensch, der dem Guten nachstrebt, der die Stimme des
Gewissens, die Stimme Gottes in seiner Seele hört, ist ein viel
grösserer Zauberer als alle Magier und Kabbalisten der Welt
zusammengerechnet. Denn ein solcher Mensch vermag es, den
dunklen Pfad des Lebens, der durch Unsicherheit und Unkenntnis
fernem Ziele zustrebt, ohne Straucheln zu gehen, erhobenen
Hauptes und des Lichts im Innern sich freuend.«
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