Warum äussern sich die Intellektuellen nicht zur Finanzkrise? Weil sie
befürchten, dass ihre Meinung als inkompetent gilt? Oder weil ökonomische
Zusammenhänge jenseits ihres Interessenhorizonts liegen?
Ich habe mich lange selbst nicht getraut, hier mitzureden. Immer wieder
strengte ich mich im Lauf der Jahre an, mir das ökonomische Grundwissen
anzueignen, und kam, alles in allem, über die Anfängerstufe nicht hinaus. Ich
empfand es als Mangel, so wenig von wirtschaftlichen Zusammenhängen zu
verstehen. Natürlich las ich die Zeitungen und bekam mit, was für
unwahrscheinliche Gewinne am Finanzmarkt gemacht wurden. Manchmal schalt ich
mich einen Narren, dass ich nicht selber irgendwelche gewinnversprechenden
Derivate erwarb. Aber die Vorsicht überwog; ich verstand einfach zu wenig,
worum es da konkret ging und was mit meinem Geld geschehen würde.
Nun aber, seit dem Fast-Kollaps des ganzen Systems, habe ich begriffen, dass
auch die Sachverständigen, die den unaufhaltsamen Gewinnzuwachs predigten,
letztlich nicht verstanden, was sie taten. Und es wird immer klarer, dass sie
noch heute nicht verstehen wollen, was ihr Handeln oder ihr Wegschauen bewirkte.
Mir scheint, nicht nur hier – aber auch hier – kann der Blick von aussen
erfassen, was Insider ausblenden oder verdrängen, und ich greife darum drei
Punkte auf, die nach meiner Meinung in der ganzen Diskussion zu kurz gekommen
sind.
1. Das System in Frage stellen
Das geltende Finanzsystem als Ganzes wurde bisher kaum ernsthaft in Frage
gestellt. Es geht offensichtlich bloss um seine Reparatur und darum, möglichst
rasch wieder möglichst viel Geld verdienen zu können. Ich meine hier
keineswegs, dass der Slogan von der «Überwindung des Kapitalismus» aus der
marxistischen Mottenkiste hervorgeholt werden soll. Aber es wäre dringend
nötig, die Anreize und die Wirkungsweise der heutigen Zinswirtschaft genau zu
analysieren und nach Alternativen zu fragen.
Der Zins, von vielen mit der Rendite gleichgesetzt, ist eine der
Antriebskräfte im real existierenden Kapitalismus. Es sind die völlig
unrealistischen Renditeversprechen, die das Kredit- und Investitionssystem
unmässig aufgebläht haben. Wenn Berater und Kunden sich in gemeinsamer
Gewinngier verbünden, dann wird offensichtlich der Verstand ausgeschaltet. Nach
aller Erfahrung – und einem Blick auf die Wirtschaftsgeschichte – wissen
wir, dass ein Renditeziel, das über 5 Prozent hinausgeht, auf längere Sicht
hoch riskant ist. Dennoch will bei uns niemand darüber nachdenken, was es zum
Beispiel bedeuten würde, hier prozentuale Obergrenzen – oder zumindest
Bandbreiten – vorzuschreiben.
Einer der bedeutenden Ökonomen des 20. Jahrhunderts, Silvio Gesell, hat
über solche Zusammenhänge gründlich geforscht. Er sah das Geld als Tausch-
und nicht als Hortungsmittel, er forderte die Einführung von «Freigeld» und
glaubte, dadurch Konjunkturausschläge verhindern zu können. Gesell wurde zu
seiner Zeit von links und von rechts verlacht. John Maynard Keynes allerdings,
der grosse Theoretiker der Nachfragepolitik, der heute wieder viel zitiert wird,
forderte 1944 für das Bretton-Woods-Abkommen, ganz im Sinne Gesells, eine
«umlaufgesicherte» internationale Währung. Das Horten, das spekulative
Zurückhalten von Geld sollte mit einer Nutzungsgebühr belegt werden, der Zins
bis auf null sinken.
So würde «neutrales» Geld entstehen; und weil dadurch der Geldbesitz nicht
mehr im gleichen Mass belohnt würde, hätte dies positive Auswirkungen auf den
Geldumlauf. Diese «Umlaufsicherung» würde den ungerechten Vorteil des Geldes
gegenüber verderblichen Sachgütern und dem Gut der Arbeitskraft vermindern.
Keynes nannte seine Weltwährung «Bancor»; er fand dafür keine Mehrheit. Im
Licht der neusten Entwicklungen wäre es an der Zeit, wieder ernsthaft über
seine Vorschläge zu diskutieren.
2. Die Psychologie der Banker
Zu wenig nachgedacht wurde bis heute auch über die kollektiven Denk- und
Verhaltensweisen der Investmentbanker. Zwar brachte der «Spiegel» eine
Titelgeschichte über ihre Schamlosigkeit; er begnügte sich aber damit,
Beispiele individueller Masslosigkeit aufzuzählen und damit die allgemeine
Empörung zu schüren, und er versäumte es, die sozialpsychologischen Gründe
dafür zu durchleuchten. Ich fände es erhellend, die obersten Schichten der
Bankenwelt mit Geheimlogen zu vergleichen, die untereinander in komplizierten
Codes kommunizieren und gegen aussen das, worum es ihnen wirklich geht,
systematisch vertuschen und abstreiten.
Ein solches Verhalten führt, sobald es genügend verinnerlicht ist, früher
oder später zu einer Art Autismus, der bewirkt, dass die Aussenwelt nur noch
verzerrt oder gar nicht mehr wahrgenommen wird. Was Logenbrüder für richtig
halten, wie sie leben, was sie für sich anhäufen, wird zum alleinigen
Massstab. Was tut jemand mit zehn, zwanzig, vierzig Millionen Franken, die er
pro Jahr erhält? Diese Frage stellt sich gar nicht, solange solche Einkünfte,
innerhalb des geschlossenen Zirkels, als normal gelten.
Um die Logenbrüder (auf den Führungsetagen fehlen die Frauen völlig) mit
der Realität zu konfrontieren, gibt es nur ein Mittel: Transparenz. Sie
müssen, ganz ohne Floskeln und Verschwommenheiten, den «Normalbürgern»
erklären, was sie tun und wie sie es tun, sie müssen deutsch und deutlich
erklären, wohin das Geld fliesst, das ihnen anvertraut wird, sie müssen
nachweisen, woher ihr Lohn kommt und wie sie ihn begründen.
3. Verständlichkeit fordern
Das ist ja, drittens, mein eigenes Bedürfnis: Ich will verstehen, ich
fordere Verständlichkeit auf jeder Ebene; und das sollte auch die Politik tun,
wenn die Banker nicht fähig sind, ihre Sprache – und damit ihr Verhalten –
zu ändern. Verstehen setzt voraus, dass Wörter und Sätze wirklich meinen, was
sie bedeuten; Verstehen heisst: Sachverhalte und Zusammenhänge eindeutig
erfassen. Verträge und Geschäftsbedingungen, in denen Begriffe wie Credit
Default Swaps und Forward Rate Agreement unerklärt bleiben, gehören in den
Papierkorb. Auch gegen dieses Bankenkauderwelsch, das zum Jargon der
Begehrlichkeit geworden ist, müsste die Finanzmarktaufsicht eigentlich
einschreiten. Sie wird es nicht tun; ihre Mitglieder sind Gefangene der
Bankeninnensicht und ebenso wenig in der Lage, den Entrüstungssturm über Boni
zu begreifen, wie die Führungsgremien der Grossbanken.
Meine Hoffnung, dass unbequeme Ideen von aussen etwas bewirken, ist
offengestanden gering. Je verständlicher und einleuchtender sie sind, desto
heftiger werden die Insider sie als «unqualifiziert» und «naiv» abtun. Es
braucht einen noch grösseren Leidensdruck, bis der Kulturwandel, nach dem jetzt
viele rufen, tatsächlich einsetzt.
Die Mitschuldigen werden sich eine Zeitlang hinter rhetorischen Abwehrmauern
ducken. Wenn ihre PR-Berater ihnen raten, Zerknirschung zu zeigen, werden sie es
tun und allenfalls Sündenböcke opfern, nie aber die Grundlagen eines mit
falschen Anreizen gestützten Systems in Frage stellen. Die bankennahen
Politiker – es sind viel zu viele – werden in die alten ideologischen
Gräben zurückkehren und griffige Massnahmen verhindern, die in ihrer
Sprachregelung «den Finanzplatz Schweiz gefährden».
Sobald der nächste Boom an den Börsen einsetzt, wird alles vergessen und
verziehen sein; die nächste Spekulationsblase wird in zehn oder fünfzehn
Jahren platzen, mit möglicherweise noch schlimmeren Folgen als heute. C'est
ça. Auch darum wohl ziehen die Intellektuellen es vor, zu schweigen. Die
«durchschlagende Wirkungslosigkeit» ihrer Interventionen ist ihnen allzu
bewusst.