„Der Kapitalismus hat nicht gesiegt“

Interview mit Prof. Dr. Peter Ulrich, Uni SG

SAMSTAG, 21. MAI 2005 SÜDKURIER NR. 115

 

Peter Ulrich hat nicht viel Zeit. Aus Zürich kommend ist er im
Stau stecken geblieben. Zum Interview erscheint er
deshalb verspätet. Und in einer knappen Stunde steht schon
der nächste Termin an. Der Wirtschaftsethiker ist in der von
der SPD angestoßenen Kapitalismus- Debatte ein gefragter Mann.
Doch in Hektik gerät er deshalb nicht. In einem kleinen, alten Haus
neben dem modernen St. Gallener Universitätskomplex ist
sein Institut für Wirtschaftsethik angesiedelt.
Er ist der Leiter. An seinem Büro ist das nicht abzulesen:
Es ist nachgerade winzig. Ulrich öffnet das Fenster,
lässt die Frühlingssonne ins Zimmer und holt sich
einen Espresso. So viel Zeit muss sein.
Herr Professor Ulrich was fällt
Ihnen spontan bei dem Wort
"Kapitalismus" ein?
Eine Einschätzung, die ich vor 15 Jahren, also nach dem Fall der Berliner Mauer, in einem Interview geäußert habe. Nämlich, dass all die Euphorie nicht darüber täuschen solle zu glauben, der Kapitalismus habe endgültig über den Sozialismus gesiegt.
Hat er nicht?
Nein, die Geschichte ist nicht zu Ende.
Es war klar, dass das westliche Wirtschaftsmodell über kurz oder lang
in eine tiefe Krise geraten wird.
In der wir heute sind?
Ja. Eine Krise, die nicht auf einmal kam. Sondern in Schüben. Wir
sind gerade in einem solchen Schub.
Was ist die Ursache?
Wir leben in einer Marktwirtschaft mit Schlagseite. Die Schlagseite
besteht darin, dass vorentschieden ist, was Ziel und was Mittel ist. Ziel
ist immer die Kapitalrendite, und zwar ihre Maximierung.
Alles andere ist Mittel: die Befriedigung von
Konsumentenbedürfnissen, die Schaffung von Arbeitsplätzen, die
gesellschaftlichen Aufgaben - ein kapitalistisches System eben.
Der Begriff "Kapitalismus" mag
einseitig klingen, doch das System
ist es nicht: Die Kapitalseite versucht
ihre Rendite zu maximieren,
genauso wie die Angestellten ihre
Einkommen. Und die Konsumenten
suchen nach den besten und/
oder billigsten Produkten.

Aber am längeren Hebel sitzt derjenige, der warten kann. Und das ist
das Kapital. Wer nur über seine Arbeitskraft verfügt, der muss diese
Arbeitskraft verkaufen und zwar dringend, um nämlich seinen
Lebensunterhalt zu verdienen.
Er kann aus einem bestehenden
Arbeitsverhältnis heraus eine Stelle
suchen, die ihm mehr zusagt. Zum
Beispiel eine mit höherem Gehalt.
So es diese Stellen gibt. Denn mit der Globalisierung hat sich einiges geändert. Die Asymmetrie zwischen dem Produktionsfaktor Kapital und Arbeit hat sich drastisch verschärft. Das Kapital ist hoch mobil, es kann letztlich virtuell seinen Standort ändern, vom Computer aus. Die Arbeitnehmer dagegen sind mehr oder weniger heimatverwurzelt und immobil.
Die Globalisierung ist schuld an
der Arbeitslosigkeit?
Das Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit hat nicht zuletzt darauf beruht, dass die Arbeitnehmer in der Lage waren, ihren Anteil am Produktivitätsfortschritt einzufordern, und zwar in genau zwei Formen: der Steigerung der Reallöhne und der Kürzung der Normalarbeitszeit. Damit ist es vorbei. Die Kaufkraft hat abgenommen, die Arbeitslosigkeit zu. Die Logik der ganzen marktwirtschaftlichen Dynamik - die durch die Globalisierung beschleunigt wurde - besteht darin, dass der Einsatz menschlicher Arbeit mit dem Produktivitätsfortschritt systematisch wegrationalisiert wird.
Eine kühne These, dass Deregulierung
prinzipiell zu Arbeitslosigkeit führt.
Wir haben 15 Jahre hinter uns, in denen die Politik konsequent nach dem Credo der Deregulierung agiert hat. Die Folge: Der Wettbewerbsund Leistungsdruck auf alle Akteure hat zugenommen. Das ergibt zwar letztlich den gewünschten Produktivitätsfortschritt. Doch die Kehrseite - nämlich die Arbeitslosenzahlen - sehen wir tagtäglich in den Zeitungen.
Aber das ist doch keine Zwangsläufigkeit.
Das Beispiel Großbritannien zeigt: Unter anderem
die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes
schafft Wachstum und stetig sinkende Arbeitslosenzahlen.
Man kann also beides haben:
Wachstum und genügend Arbeitsplätze.
So lange die Menschen Wünsche haben und diese Wünschen
von anderen Menschen erfüllt werden können, wird die
Arbeit nicht ausgehen.
Gegenbeispiel Frankreich: In den letzten fünf Jahren sind dort die ökonomischen Zahlen deutlich besser als die von Deutschland, obwohl die neoliberalen Ökonomen vor dramatischen Folgen der dort gesetzlich festgelegten Senkung der Wochenarbeitszeit gewarnt haben.
Wir müssen also die Arbeit umverteilen?
Die alte Lösung, ganz besonders im Nachkriegsdeutschland, hieß:
Wer arbeiten will, der kann arbeiten, der bringt's zu was. Der Arbeitsmarkt hat die soziale Integration geleistet.
Über den Arbeitsmarkt wurden Einkommen, aber auch
gesellschaftliche Anerkennung verteilt. Heute leistet der Arbeitsmarkt
dies nicht mehr für alle.
Folgen wir einmal Ihrer These,
dass es immer weniger Erwerbsarbeit
gibt, welche Schlussfolgerungen
wären daraus zu ziehen?
Es gibt drei Möglichkeiten. Erstens: Wir können eine zunehmend gespaltene Gesellschaft in Kauf nehmen. Also den amerikanischen, zum Teil britischen Weg gehen. Das heißt, die Zahl der Working Poor nimmt zu, die Einkommens- und Vermögensverteilung geht weiter auseinander, das Ideal einer Bürgergesellschaft wird aufgegeben. Außer wenigen Marktfundamentalisten will das auf dem europäischen Kontinent niemand.
Zweitens?
Wenn der Arbeitsmarkt die nötigen Stellen nicht von selbst schafft,
müssen wir neue Mechanismen finden, um alle Arbeitsfähigen an der
knapper werdenden Erwerbsarbeit zu beteiligen.
Wie soll das geschehen?
Wir brauchen ein Agreement zwischen den Tarifpartnern und der
Politik, während 10, 20 Jahre auf Reallohnsteigerungen
zu verzichten. Der Produktivitätsgewinn sollte vielmehr systematisch
genutzt werden, um die Normalarbeitszeit zu verkürzen.
Über die Verteilung des Erwirtschafteten entscheidet in einer
Marktwirtschaft eigentlich der Markt…
… Was heißt "der Markt"? Der Markt allein definiert noch keine Wirtschaftsordnung. Er ist nur ein elementarer Koordinationsmechanismus. Eine Marktwirtschaft ist eine komplexe Kombination von rechtsstaatlichen Rahmenbedingungen und Anreizstrukturen. Dieses Arrangement ist von jeder Generation so neu zu tunen, dass die Ergebnisse gemeinwohldienlich sind. Wenn der Arbeitsmarkt das nicht mehr leistet, dann brauchen wir eine umfassende Arbeitspolitik, die knappe Erwerbsarbeit gerecht verteilt.
Damit am Ende alle eine Arbeit haben?
Ja, soweit möglich. Es gibt aber noch eine dritte Option.
Und die wäre?
Wenn der Arbeitsmarkt die entscheidende Funktion, möglichst alle
Bürger mit Erwerbskraft zu versorgen, nicht mehr leistet, dann
müssen wir eben einen Teil des Bruttosozialprodukts mit anderen
Methoden verteilen.
Wie?
Wir könnten einen Teil des Bruttosozialprodukts in Form eines
Grundeinkommens für jedermann ausgeben.
Wer Bürger eines Landes und volljährig ist, hätte Anspruch auf ein
solches Grundeinkommen. Wie weit er darüber hinaus noch
erwerbstätig sein möchte, bleibt ihm überlassen. Wer Kinder aufzieht,
erhält zusätzlich zum Beispiel ein halbes Grundeinkommen
pro Kind. Wirkt übrigens auch gut gegen die so genannte
Überalterung der Gesellschaft.
Aha. Und wie hoch sollte dieses
Grundeinkommen sein?
Man sollte dabei ökonomische Gesichtspunkte beachten, sodass nicht die Anreize zur Produktivitätssteigerung und der Standort kaputt gemacht werden. Entscheidend aber ist: Wollen wir den Zwang eines jeden, sich im Wettbewerb zu verkaufen? Oder eben die grundlegende Alternative: eine zivilisierte, hoch entwickelte Gesellschaft mit zeitgemäßen Bürgerrechten, zu denen eben auch sozioökonomische Rechte gehören?
Hört sich schön an. Aber nochmals die Frage: Wie hoch sollte das
Grundeinkommen sein?
Es müsste schrittweise aufgebaut werden, sodass es wiederum aus dem Produktivitätsfortschritt finanziert werden könnte. Zunächst wäre es noch längere Zeit nicht existenzsichernd. Doch der Bedarf nach Arbeitslosen und Sozialhilfe würde sukzessive sinken. Wie hoch das Grundeinkommen am Ende sein soll, ist keine rein ökonomische, sondern eine politische, also demokratisch zu entscheidende Frage. Es geht um die Gesellschaft, in der wir leben wollen. Die Pointe ist: Wenn jeder ein bedingungsloses Grundeinkommen erhält, gibt es keine Stigmatisierung mehr. Ein allgemeines Bürgerrecht zu haben ist etwas ganz anderes als zu den "Versagern" zu gehören, die auf "Sozialhilfe" angewiesen sind.
Warum aber sollte dann noch jemand arbeiten gehen?
Erstens weil nur die Kombination von Grundeinkommen und
Erwerbseinkommen einen hohen Lebensstandard ermöglicht, und
zweitens weil die Erwerbsarbeit für die meisten Menschen
weit mehr als nur Einkommen bedeutet, nämlich innere Erfüllung und
Selbstwertgefühl. Wäre allerdings das Grundeinkommen zu hoch, so
wäre der Anreiz, eine Erwerbsarbeit anzunehmen, gering. Wäre
umgekehrt das Grundeinkommen zu tief, so würde sich nur eine
kleine Minderheit damit zufrieden geben und es würden weiterhin
fast alle in den Arbeitsmarkt drängen. Es käme darauf an,
Grundeinkommen und Lohnanreize so auszubalancieren, dass weder
Arbeitslosigkeit noch Arbeitskräftemangel besteht.
Sie sehen, mit dem dualistischen Einkommensverteilungskonzept
lässt sich im Prinzip der Arbeitsmarkt wieder ins Gleichgewicht
bringen!
Eine Balance, die - wenn überhaupt - schwer zu finden sein wird.
Sie muss sich volkswirtschaftlich einpendeln. Wenn aber die
Menschen diese kleine Freiheit gewinnen, dass sie sagen können, ich
muss nicht mehr jeden Drecksjob annehmen, meine Existenz auf
bescheidenem Niveau ist gesichert, so würden die Arbeitnehmer auf
dem Arbeitsmarkt ein stärkerer Verhandlungspartner. Die Arbeitgeber
müssten sich anstrengen, attraktive Jobs anzubieten, und das käme
wiederum dem Produktivitätsfortschritt und Strukturwandel der
Volkswirtschaft zugute. Und da die Existenzängste der Bürger
geringer wären, würden sie auch wieder mehr kaufen.
Das Gespräch Führte Johannes Eber

 

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