Peter Ulrich hat nicht viel Zeit. Aus Zürich kommend ist er im Stau stecken geblieben. Zum Interview erscheint er deshalb verspätet. Und in einer knappen Stunde steht schon der nächste Termin an. Der Wirtschaftsethiker ist in der von der SPD angestoßenen Kapitalismus- Debatte ein gefragter Mann. Doch in Hektik gerät er deshalb nicht. In einem kleinen, alten Haus neben dem modernen St. Gallener Universitätskomplex ist sein Institut für Wirtschaftsethik angesiedelt. Er ist der Leiter. An seinem Büro ist das nicht abzulesen: Es ist nachgerade winzig. Ulrich öffnet das Fenster, lässt die Frühlingssonne ins Zimmer und holt sich einen Espresso. So viel Zeit muss sein.
Herr Professor Ulrich was fällt Ihnen spontan bei dem Wort "Kapitalismus" ein?
Eine Einschätzung, die ich vor 15 Jahren, also nach dem Fall der
Berliner Mauer, in einem Interview geäußert habe. Nämlich, dass all
die Euphorie nicht darüber täuschen solle zu glauben,
der Kapitalismus habe endgültig über den Sozialismus gesiegt.
Hat er nicht?
Nein, die Geschichte ist nicht zu Ende.
Es war klar, dass das westliche Wirtschaftsmodell über kurz oder lang
in eine tiefe Krise geraten wird.
In der wir heute sind?
Ja. Eine Krise, die nicht auf einmal kam. Sondern in Schüben. Wir
sind gerade in einem solchen Schub.
Was ist die Ursache?
Wir leben in einer Marktwirtschaft mit Schlagseite. Die Schlagseite
besteht darin, dass vorentschieden ist, was Ziel und was Mittel ist. Ziel
ist immer die Kapitalrendite, und zwar ihre Maximierung.
Alles andere ist Mittel: die Befriedigung von
Konsumentenbedürfnissen, die Schaffung von Arbeitsplätzen, die
gesellschaftlichen Aufgaben - ein kapitalistisches System eben.
Der Begriff "Kapitalismus" mag einseitig klingen, doch das System ist es nicht: Die Kapitalseite versucht ihre Rendite zu maximieren, genauso wie die Angestellten ihre Einkommen. Und die Konsumenten suchen nach den besten und/ oder billigsten Produkten. Aber am längeren Hebel sitzt derjenige, der warten kann. Und das ist das Kapital. Wer nur über seine Arbeitskraft verfügt, der muss diese Arbeitskraft verkaufen und zwar dringend, um nämlich seinen Lebensunterhalt zu verdienen.
Er kann aus einem bestehenden Arbeitsverhältnis heraus eine Stelle suchen, die ihm mehr zusagt. Zum Beispiel eine mit höherem Gehalt.
So es diese Stellen gibt. Denn mit der Globalisierung hat sich einiges
geändert. Die Asymmetrie zwischen dem Produktionsfaktor Kapital
und Arbeit hat sich drastisch verschärft. Das Kapital ist hoch mobil, es
kann letztlich virtuell seinen Standort ändern, vom Computer aus. Die
Arbeitnehmer dagegen sind mehr oder weniger heimatverwurzelt
und immobil.
Die Globalisierung ist schuld an der Arbeitslosigkeit?
Das Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit hat nicht zuletzt darauf
beruht, dass die Arbeitnehmer in der Lage waren, ihren Anteil am
Produktivitätsfortschritt einzufordern, und zwar in genau zwei
Formen: der Steigerung der Reallöhne und der Kürzung der
Normalarbeitszeit. Damit ist es vorbei. Die Kaufkraft hat
abgenommen, die Arbeitslosigkeit zu. Die Logik der ganzen
marktwirtschaftlichen Dynamik - die durch die Globalisierung beschleunigt wurde -
besteht darin, dass der Einsatz menschlicher Arbeit mit dem Produktivitätsfortschritt systematisch
wegrationalisiert wird.
Eine kühne These, dass Deregulierung prinzipiell zu Arbeitslosigkeit führt.
Wir haben 15 Jahre hinter uns, in denen die Politik konsequent nach
dem Credo der Deregulierung agiert hat. Die Folge: Der Wettbewerbsund
Leistungsdruck auf alle Akteure hat zugenommen.
Das ergibt zwar letztlich den gewünschten Produktivitätsfortschritt.
Doch die Kehrseite - nämlich die Arbeitslosenzahlen - sehen wir tagtäglich in den Zeitungen.
Aber das ist doch keine Zwangsläufigkeit. Das Beispiel Großbritannien zeigt: Unter anderem die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes schafft Wachstum und stetig sinkende Arbeitslosenzahlen. Man kann also beides haben: Wachstum und genügend Arbeitsplätze. So lange die Menschen Wünsche haben und diese Wünschen von anderen Menschen erfüllt werden können, wird die Arbeit nicht ausgehen.
Gegenbeispiel Frankreich: In den letzten fünf Jahren sind dort die
ökonomischen Zahlen deutlich besser als die von Deutschland,
obwohl die neoliberalen Ökonomen vor dramatischen
Folgen der dort gesetzlich festgelegten Senkung der
Wochenarbeitszeit gewarnt haben.
Wir müssen also die Arbeit umverteilen?
Die alte Lösung, ganz besonders im Nachkriegsdeutschland, hieß:
Wer arbeiten will, der kann arbeiten, der bringt's zu was. Der Arbeitsmarkt hat die soziale Integration geleistet.
Über den Arbeitsmarkt wurden Einkommen, aber auch
gesellschaftliche Anerkennung verteilt. Heute leistet der Arbeitsmarkt
dies nicht mehr für alle.
Folgen wir einmal Ihrer These, dass es immer weniger Erwerbsarbeit gibt, welche Schlussfolgerungen wären daraus zu ziehen?
Es gibt drei Möglichkeiten. Erstens: Wir können eine zunehmend
gespaltene Gesellschaft in Kauf nehmen. Also den amerikanischen,
zum Teil britischen Weg gehen. Das heißt, die Zahl der Working Poor
nimmt zu, die Einkommens- und Vermögensverteilung geht
weiter auseinander, das Ideal einer Bürgergesellschaft wird
aufgegeben.
Außer wenigen Marktfundamentalisten will das auf dem europäischen
Kontinent niemand.
Zweitens?
Wenn der Arbeitsmarkt die nötigen Stellen nicht von selbst schafft,
müssen wir neue Mechanismen finden, um alle Arbeitsfähigen an der
knapper werdenden Erwerbsarbeit zu beteiligen.
Wie soll das geschehen?
Wir brauchen ein Agreement zwischen den Tarifpartnern und der
Politik, während 10, 20 Jahre auf Reallohnsteigerungen
zu verzichten. Der Produktivitätsgewinn sollte vielmehr systematisch
genutzt werden, um die Normalarbeitszeit zu verkürzen.
Über die Verteilung des Erwirtschafteten entscheidet in einer Marktwirtschaft eigentlich der Markt…
… Was heißt "der Markt"? Der Markt allein definiert noch keine Wirtschaftsordnung.
Er ist nur ein elementarer Koordinationsmechanismus. Eine Marktwirtschaft ist eine komplexe
Kombination von rechtsstaatlichen Rahmenbedingungen und
Anreizstrukturen. Dieses Arrangement ist von jeder Generation so neu
zu tunen, dass die Ergebnisse gemeinwohldienlich sind. Wenn der
Arbeitsmarkt das nicht mehr leistet, dann brauchen wir eine
umfassende Arbeitspolitik, die knappe Erwerbsarbeit gerecht verteilt.
Damit am Ende alle eine Arbeit haben?
Ja, soweit möglich. Es gibt aber noch eine dritte Option.
Und die wäre?
Wenn der Arbeitsmarkt die entscheidende Funktion, möglichst alle
Bürger mit Erwerbskraft zu versorgen, nicht mehr leistet, dann
müssen wir eben einen Teil des Bruttosozialprodukts mit anderen
Methoden verteilen.
Wie?
Wir könnten einen Teil des Bruttosozialprodukts in Form eines
Grundeinkommens für jedermann ausgeben.
Wer Bürger eines Landes und volljährig ist, hätte Anspruch auf ein
solches Grundeinkommen. Wie weit er darüber hinaus noch
erwerbstätig sein möchte, bleibt ihm überlassen. Wer Kinder aufzieht,
erhält zusätzlich zum Beispiel ein halbes Grundeinkommen
pro Kind. Wirkt übrigens auch gut gegen die so genannte
Überalterung der Gesellschaft.
Aha. Und wie hoch sollte dieses Grundeinkommen sein?
Man sollte dabei ökonomische Gesichtspunkte beachten, sodass nicht
die Anreize zur Produktivitätssteigerung und der Standort kaputt
gemacht werden. Entscheidend aber ist: Wollen wir den Zwang eines
jeden, sich im Wettbewerb zu verkaufen? Oder eben die grundlegende
Alternative: eine zivilisierte, hoch entwickelte Gesellschaft
mit zeitgemäßen Bürgerrechten, zu denen eben auch
sozioökonomische Rechte gehören?
Hört sich schön an. Aber nochmals die Frage: Wie hoch sollte das Grundeinkommen sein?
Es müsste schrittweise aufgebaut werden, sodass es wiederum aus
dem Produktivitätsfortschritt finanziert werden könnte. Zunächst wäre
es noch längere Zeit nicht existenzsichernd.
Doch der Bedarf nach Arbeitslosen und Sozialhilfe würde sukzessive
sinken.
Wie hoch das Grundeinkommen am Ende sein soll, ist keine rein
ökonomische, sondern eine politische, also demokratisch zu
entscheidende Frage. Es geht um die Gesellschaft, in der wir
leben wollen. Die Pointe ist: Wenn jeder ein bedingungsloses
Grundeinkommen erhält, gibt es keine Stigmatisierung mehr. Ein
allgemeines Bürgerrecht zu haben ist etwas ganz anderes als zu den
"Versagern" zu gehören, die auf "Sozialhilfe" angewiesen sind.
Warum aber sollte dann noch jemand arbeiten gehen?
Erstens weil nur die Kombination von Grundeinkommen und
Erwerbseinkommen einen hohen Lebensstandard ermöglicht, und
zweitens weil die Erwerbsarbeit für die meisten Menschen
weit mehr als nur Einkommen bedeutet, nämlich innere Erfüllung und
Selbstwertgefühl. Wäre allerdings das Grundeinkommen zu hoch, so
wäre der Anreiz, eine Erwerbsarbeit anzunehmen, gering. Wäre
umgekehrt das Grundeinkommen zu tief, so würde sich nur eine
kleine Minderheit damit zufrieden geben und es würden weiterhin
fast alle in den Arbeitsmarkt drängen. Es käme darauf an,
Grundeinkommen und Lohnanreize so auszubalancieren, dass weder
Arbeitslosigkeit noch Arbeitskräftemangel besteht.
Sie sehen, mit dem dualistischen Einkommensverteilungskonzept
lässt sich im Prinzip der Arbeitsmarkt wieder ins Gleichgewicht
bringen!
Eine Balance, die - wenn überhaupt - schwer zu finden sein wird.
Sie muss sich volkswirtschaftlich einpendeln. Wenn aber die
Menschen diese kleine Freiheit gewinnen, dass sie sagen können, ich
muss nicht mehr jeden Drecksjob annehmen, meine Existenz auf
bescheidenem Niveau ist gesichert, so würden die Arbeitnehmer auf
dem Arbeitsmarkt ein stärkerer Verhandlungspartner. Die Arbeitgeber
müssten sich anstrengen, attraktive Jobs anzubieten, und das käme
wiederum dem Produktivitätsfortschritt und Strukturwandel der
Volkswirtschaft zugute. Und da die Existenzängste der Bürger
geringer wären, würden sie auch wieder mehr kaufen.
Das Gespräch Führte Johannes Eber
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