Interview von Gabriela Meile mit Prof. Peter Ulrich

«Wir leben nicht, um zu arbeiten»

Ein erhöhtes Rentenalter erscheint dem Wirtschaftsethiker Peter Ulrich widersinnig. Vielmehr plädiert er für die Suche nach neuen gesellschaftlichen Fortschrittshorizonten, beispielsweise die Idee eines erwerbsunabhängigen Grundeinkommens. Dass die Schweizer Bevölkerung immer noch mehr arbeitet, macht für ihn keinen Sinn.
Wirtschaft sieht er nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel für eine gute Lebensqualität an.
Der calvinistische Arbeitsethos «Wir leben, um zu arbeiten – alles andere heisst, dem Hergott den Tag zu stehlen», nennt er in der heutigen Zeit veraltet.

Macht Ihrer Ansicht nach ein erhöhtes Rentenalter Sinn? Mit welcher Begründung?

Peter Ulrich: «Nein, ein erhöhtes Standard-Rentenalter erscheint mir widersinnig. Weder die Arbeitgeber noch die Arbeitnehmer sind wirklich daran interessiert. Es führt nach aller bisherigen Erfahrung nur zu einer noch grösseren Lücke zwischen AHV-Alter und teilweise deutlich früherem tatsächlichem Pensionierungsalter, was die Arbeitgeber so oder so teuer zu stehen kommt. Denn Frühpensionierungen sind für die Firmen in der Regel teuer. Ausserdem kosten Arbeitslose die Allgemeinheit mehr als Rentner. Darüber hinaus kann es doch nicht der Sinn des anhaltenden volkswirtschaftlichen Produktivitätsfortschritts sein, dass wir immer mehr arbeiten. Wirtschaft ist nicht Selbstzweck, sondern Mittel für eine gute Lebensqualität.»

Somit bestätigen Sie den Traum der Mehrheit, spätestens ab dem 65. Altersjahr mehr Freizeit zur Verfügung zu haben...

«Gewiss, lieber noch früher. Und zwar nicht, weil die älter werdenden Menschen heutzutage plötzlich zur Faulheit neigen, sondern weil sich der Arbeitsrhythmus in den letzten 20 Jahren so verdichtet hat, dass sich immer mehr Leute nach etwa 40 Jahren in diesem hektischen und nicht immer sehr befriedigenden Erwerbsleben einfach ausgebrannt fühlen und genug haben. Wer es sich leisten kann, erwägt, ob er nicht früher aufhören will.»

Wer wäre in der heutigen Gesellschaft bereit länger zu arbeiten?

«Das frage ich mich auch! Im Wesentlichen wohl nur die Inhaber sehr interessanter und qualifizierter Positionen mit viel persönlichem Gestaltungsfreiraum, für welche die Arbeit der Hauptinhalt ihrer Lebensqualität ist. Zu diesen Privilegierten, die den realen Arbeitsalltag der Mehrheit kaum aus eigener Erfahrung kennen, gehören nach meinem Eindruck jedenfalls fast alle, die sich öffentlich für ein höheres AHV-Alter aussprechen. Oft sind es wohl Personen, die noch mit dem alten calvinistischen Arbeitsethos («Wir leben, um zu arbeiten – alles andere heisst dem Herrgott den Tag stehlen») gross geworden sind und glänzende Äuglein kriegen, wenn sie erzählen können, dass sie in der letzten Woche 85 Stunden geschuftet und seit Monaten kein freies Wochenendemehr gehabt haben. Ich weiss übrigens ein bisschen aus eigener Erfahrung, wovon ich hier rede ...»

Wird durch die Erhöhung des Rentenalters das Workaholic-Syndrom gefördert?

«Das wohl kaum. Denn man kann den stattfindenden kulturellen Wertewandel nicht durch Gesetze aufhalten. Das calvinistische Arbeitsethos machte in einer frühmodernen, unproduktiven Wirtschaft durchaus Sinn. Nun gerät es zunehmend in Widerspruch zur Realität einer hochproduktiven Volkswirtschaft. Heute erleiden die meisten Menschen hierzulande doch wohl weniger einen Mangel an produzierbaren und käuflichen Gütern als eher einen Mangel an Zeit, Besinnlichkeit und geistiger Nahrung. Nicht zufällig kommt heute der Ruf nach einer besseren «Work/Life-Balance» auf.»

Was wäre im Falle einer Erhöhung mit denjenigen, die mit 65 Jahren oder noch früher bereits ausgebrannt sind?

«Die Zahl der älteren Arbeitnehmer, die von den Arbeitgebern mit freundlichen Grüssen an den Sozialstaat abgeschoben werden oder sich selber zu diesem flüchten, würde weiter zunehmen (Frühpensionierungen, IV-Verrentung). Ein klassisches Beispiel, wie die Politik einfach die Symptome von der einen Staatskasse in die andere verschiebt, statt die ursächlichen Probleme anzupacken.»

Manche Befürworter bringen das Argument, dass man früher auch praktisch sein ganzes Leben lang gearbeitet habe. Heute sind jedoch die Anforderungen höher. Inwiefern wird dieser Aspekt beachtet?

«In früheren Zeiten hat man eher lang, aber weniger intensiv gearbeitet. Heute eher intensiv, dafür kürzer. Das liegt in der Logik des Produktivitätsfortschritts. Wer beides will – stetige Arbeitsintensivierung und -verlängerung -, überfordert immer mehr Menschen.»

Ein anderes Argument ist die Überalterung. Ebenso die unsichere AHV. Kann es sich unsere Gesellschaft überhaupt leisten, auf Arbeitskräfte über 65 zu verzichten?

«Ihre Frage ist im Prinzip fast so zynisch, wie wenn man zu Zeiten der Sklaverei, zum Beispiel in den USA im 19. Jahrhundert, gefragt hätte, ob man sich deren Abschaffung «leisten» könne. Was wir uns gesellschaftlich leisten können und was nicht, hängt doch zuallererst von Wertvorstellungen und entsprechenden Prioritäten ab. Also davon, in welcher einer Gesellschaft wir leben wollen. Hinter den Sachzwangargumenten vom Typus «Wir können es uns nicht leisten...» steckt meistens ein Nicht-Wollen. Wenn uns die Chance der Menschen auf den Ruhestand zu einem von ihnen selbst bestimmten Zeitpunkt etwas wert ist, dann werden wir uns das gesellschaftlich etwas kosten lassen und dafür gerne auf anderes verzichten.»

Wie soll das Problem der Überalterung durch ein Erhöhtes Rentenalter gelöst werden können?

«Das müssen Sie schon jene fragen, die das vertreten.»

Was ist an der Aussage dran, dass der Wirtschaft in zehn Jahren die Arbeitskräfte ausgehen werden?

«Wohl nicht viel. Das ist doch Schreckmümpfeli-Ökonomik. Die Schweizer Firmen haben sich noch immer jene Arbeitskräfte ins Land geholt, die sie benötigt haben. Warum sollte ihnen das ausgerechnet in Zukunft, wo das mit der Personenfreizügigkeit in Europa viel leichter wird, nicht mehr gelingen?»

Apropos Personenfreizügigkeit und Schengen/Bilateralen II: Viele fürchten deshalb eine höhere Arbeitslosenquote. Ausländische Arbeitskräfte könnten der Schweizer Bevölkerung die Stellen wegnehmen. Gleichzeitig fürchtet die Wirtschaft dennoch, in zehn Jahren zu wenig potentielle Arbeitskräfte zu finden?

«Die Auswirkungen eines offenen, grenzüberschreitenden Arbeitsmarkts sind nicht leicht vorauszusagen. Denn sie hängen ja von der Mobilitätsbereitschaft von Menschen ab, und die handeln zum guten Glück eigenwillig. Man muss ihnen schon etwas bieten, um sie zu bewegen. In jüngster Zeit zeichnet sich aber ab, dass die Schweiz gerade auch für hochqualifizierte und weltgewandte ausländische Arbeitskräfte durchaus ein attraktiver Arbeits- und Lebensraum ist. Die Konkurrenz wird im Arbeitsmarkt wohl auf allen Bildungsniveaus laufend etwas zunehmen. Sofern die demographische Verknappung des einheimischen Arbeitskräfteangebots dadurch überkompensiert wird, steigt die Arbeitslosigkeit im Land weiter an. Bevor wir mit dem Saldo-Effekt dieser gegenläufigen Entwicklungen mehr Erfahrung haben, scheint es mir jedenfalls verfrüht, die demographische Entwicklung als «zwingenden» Grund für eine Erhöhung des AHV-Alters auszugeben.»

Über Renten von Politikern kann man denken, wie man will. Dennoch eine Frage dazu: Weshalb soll die Durchschnittsbevölkerung länger arbeiten, während Bundesangestellte teilweise Renten in horrender Höhe beziehen können?
Auch
können Bundesangestellte (noch) bereits mit 62 Jahren ihre volle Rente beziehen.
Sollte deren Rentenalter erhöht werden?, dann nur auf 65 Jahre?.
Weshalb diese Bevorzugung? Und wird es jemals annähernd eine Gleichheit geben können?

«Die Bevorzugung irgendeiner Beschäftigtengruppe oder Branche ist gewiss nicht fair. Nur sollte man nicht ausser Acht lassen, dass heute in zahlreichen bekannten Firmen, gerade in den blühendsten Branchen der Schweiz, die Mitarbeitenden ähnlich früh und zum Teil noch früher pensioniert werden. Auch aus dieser Perspektive wäre der Übergang zu einem flexiblen Pensionierungsalter überfällig. Freie und gleichberechtigte Bürgerinnen und Bürger in einem wohlgeordneten Land verdienen es meines Erachtens, dass sie ihren Altersrücktritt gemäss ihren privaten Bedürfnissen und Prioritäten, aber unter gleichen Rahmenbedingungen für alle wählen können.»

Und noch eine letzte Frage: Herr Ulrich, Sie haben einmal von einem Bürgergeld gesprochen. Welches wäre der Zweck dessen und wie liesse sich die Idee umsetzen?

«Das Bürgergeld ist kein von heute auf morgen anwendbares Rezept, aber eine faszinierende, radikal liberale Idee. Es geht darum, die Menschen ein Stück weit aus dem Zwang, sich bis zur Pensionierung permanent im Erwerbsleben verkaufen und behaupten zu müssen, zu befreien. Die Idee geht von der Einsicht aus, dass das Sozialprodukt in einer komplex-arbeitsteiligen Volkswirtschaft wirklich ein Gemeinschaftsergebnis ist, dessen faire Verteilung nicht allein dem Arbeitsmarkt überlassen werden kann. Eine wahrhaftig «bürgerliche» Gesellschaft gewährt jeder Bürgerin und jedem Bürger, unabhängig von ihrem Glück oder Pech auf dem Arbeitsmarkt, die Voraussetzungen für ein Leben in Würde und Selbstachtung. Auch wenn ein bescheidenes, gewährleistetes Grundeinkommen für alle wohl noch für Jahrzehnte allein nicht existenzsichernd wäre, könnte es doch die Angst der Menschen vor dem eventuellen Verlust des Arbeitsplatzes verringern. Und das kann heute jedermann treffen. Auch Phasen freiwilliger Nichterwerbs-
tätigkeit oder eines reduzierten Pensums, zum Beispiel für Weiterbildung, Familiengründung und Auslandaufenthalte, liessen sich leichter überbrücken. Die reale Freiheit der Menschen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, würde wachsen. Vieles könnte der privaten Autonomie überlassen werden, was heute der sozialstaatlichen Unterstützung bedarf. Wenn der weitere volkswirtschaftliche Produktivitätsfortschritt zur allmählichen Anhebung des gewährleisteten Grundeinkommens auf ein existenzsicherndes Niveau genutzt würde, erübrigten sich mit der Zeit die meisten speziellen Sozialversicherungen. Wer höhere Ansprüche stellt, könnte sich über das Bürgergeldniveau hinaus freiwillig für Alter und alle möglichen Lebensrisiken versichern. Nach der Übergangsphase mit den allmählich auslaufenden, zweckgebundenen Sozialtransfers des heutigen Typus würden nahezu alle sozialstaatlichen Ermessensentscheidungen wegfallen. Der Sozialstaat würde administrativ schlanker. Niemand würde mehr zum «Sozialfall» stigmatisiert. Das ist wie gesagt eine bürgerliberale Fortschrittsidee, kein Kochrezept. Manchmal würde ich mir schon wünschen, dass wir in der Schweiz gelegentlich wieder über attraktive gesellschaftspolitische Zukunftsmodelle diskutieren würden, statt alle Problem mit dem phantasielosen Ruf nach höherem, aber sich partout nicht einstellendem Wirtschaftswachstum lösen zu wollen.»

Herr Ulrich, ich danke Ihnen für das Interview.
Gabriela Meile

(St. Galler Nachrichten, 27. Januar 2005, S. 18,
sowie Thurgauer Nachrichten, 27. Januar 2005, S. 16)

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Buch zum Thema
Peter Ulrich hat unter dem Titel «Der entzauberte Markt. Eine wirtschaftsethische Orientierung» ein Buch zum Thema geschrieben. Diesen März erscheint es in überarbeiteter Zweitauflage als Taschenbuch in der Reihe «Herder spektrum» unter dem Titel «Zivilisierte Marktwirtschaft. Eine wirtschaftethische Orientierung». Es ist beim Herder Verlag unter der ISBN 3-41-05579-1 für 9,90 Euro bzw. 18,10 Franken erhältlich.

 

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